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Interview: Gott wächst auf Bäumen, ein Werk mit 99 Porträts von Kindern aus Medresen in Pakistan.
Von Sharmini Pereira | Mär 2009Sharmini Pereira: Ich finde es sehr bemerkenswert, wie du der Rolle der Religion in Pakistan nachgegangen bist. Das ist ein Thema, das zwar große Aufmerksamkeit zu erregen scheint, aber trotzdem ganz falsch verstanden wird. In Arbeiten wie Read (Lies), God Grows on Trees (Gott wächst auf Bäumen) oder In this is a sign for those who reflect (In diesem ist ein Zeichen für jene, die nachdenken) kann man deine eigene Frustration über diese Situation deutlich spüren. Doch in all diesen Werken ist eine sehr tief gehende Beobachtung festzustellen, durch die du in deiner Praxis als Künstlerin in ganz andere Räume vorgestoßen sein müsstest.
Hamra Abbas: Ich würde nicht das Wort Frustration gebrauchen. Ich denke, die Werke haben viel stärker mit dieser Beobachtung zu tun, die du erwähntest. Read ist ein Labyrinth, eine Frage; God Grows on Trees ist eine Kontemplation, und In this is a sign for those who reflect ist eine Reflexion. Ich halte mich nicht für eine Autorität und bin auch nicht informiert genug, um mich über Angelegenheiten der Religion auszulassen. In meinem Schaffen gebe ich keine Werturteile ab. Doch unterhalte ich zum Islam und den darin enthaltenen komplexen Aspekten eine enge existenzielle Beziehung. Also auf dieser Ebene und in diesem Kontext bin ich in der Lage, mich mit Glaubensfragen zu beschäftigen und in solche einzufühlen. Andererseits habe ich eine sehr kritische Einstellung zur Rolle des "Informanten", der sich nach einer flüchtigen Begegnung mit der muslimischen Welt in unverfrorenem Exhibitionismus ergeht. Unglücklicherweise setzt sich diese vom Orientalismus herkommende Verhaltensweise heutzutage fort und ist ein wesentlicher Grund nicht nur für die verzerrte Darstellung der Religion, sondern auch für Spannungen. Die Bedeutung und der zentrale Rang von Religion hinsichtlich heutiger Turbulenzen und der damit zusammenhängenden Ungewissheit berührt mich zutiefst. Wie du ganz richtig sagtest, ist das ein Thema, das so große Aufmerksamkeit erhält und dennoch so falsch verstanden bleibt.
SP: Kannst du erläutern, wie dich diese Beziehung zum Glauben zu solchen Werken angeregt hat?
HA: Als ich nach vier Jahren in Berlin nach Pakistan zurückgekehrt war, besuchte ich für gewöhnlich als Begleiterin meines Partners - eines Akademikers, der Religion studiert und einer Richtung des Sufismus angehört - verschiedene Orte von religiöser Bedeutung. Von den drei Werken, die durch meine Begegnung mit solchen Orten inspiriert sind, beschäftigte mich God Grows on Trees am meisten. Ich suchte viele verschiedene Madrassahs (religiöse Schulen) auf, um die kleinen Schüler zu dokumentieren, Mädchen wie auch Jungen. Für mich war das ein Haufen munterer und gesprächiger Kinder, die ihre sabaq (Lektionen) aufsagten, und das ist es, was ich malen wollte. Zum Schluss hat es mich selbst total überrascht, wie emotional nahe mir diese kleinen Gesichter durch ihre Porträts geworden sind, die mich fast ein ganzes Jahr lang umgaben. Als ich die Arbeit nach der Eröffnung meiner Ausstellung in Berlin hinter mir gelassen hatte, war es für mich fast so, als hätte ich die Kinder verlassen. Bei dieser Arbeit habe ich etwas gefühlt, was ich niemals zuvor empfunden hatte.
SP: Das klingt so, als wenn von dieser Erfahrung ein starker Einfluss auf eine Weise ausging, die du als Letztes erwartet hättest. Ich kann mir vorstellen, dass das Werk nicht in dieser Form existieren würde, wenn du nicht eine solch lange Zeit mit den Kindern verbracht und nicht einen solch direkten Zugang zu ihnen gehabt hättest, was gewiss der Grund ist, weshalb du bestimmte Seiten von dir so angesprochen gefühlt hast, wie das bei der Arbeit an anderen Werken nicht der Fall war. Aber ich kann mich natürlich irren. Bis vor ziemlich kurzer Zeit dachte ich, ein "außenstehender Zuschauer" zu sein, sei eine der interessantesten Positionen, um ein Kunstwerk zu schaffen oder zu schreiben. Obwohl ich das nach wie vor glaube, habe ich auch viel über den Unterschied nachgedacht, den es zwischen der Position eines Zuschauers und der eines Zeugen gibt. Ich frage mich, ob ein Zeuge nicht dazu angehalten ist, das Gesehene in einer Weise mitzuteilen, die den Gegenstand und das Publikum soweit anerkennt, dass der Zeuge immer wieder gezwungen ist, sein Bewusstsein zu überprüfen und nicht eine Meinung weiterzugeben, wie es ein "Informant" tun würde. Als ich God Grows on Trees zum ersten Mal sah während du noch dabei warst, die Porträts der Kinder zu malen, dachte ich, wie außerordentlich diese Bilder sind. Nicht wegen der exquisiten Technik, sondern weil viele von uns dadurch dem, was du bezeugst, so nahe wie sonst nie kommen. Aber auch der Blick eines Zeugen ist noch subjektiv gefärbt, was mich zu der Frage veranlasst, wo du in deinem Schaffen an sich die Trennlinie zwischen Fakten und Fiktion ziehst?
HA: Im Prozess der Verarbeitung von Fakten spielt Macht eine wichtige Rolle, aber Fiktion ist ebenso eine Möglichkeit, "Realität" auszudrücken und uns die Dinge anders sehen zu lassen. Es fasziniert mich, wie stark die Tradition des Geschichtenerzählens und der Mythen in der menschlichen Imagination verankert ist, vielleicht weil sie etwas über die Fakten des Menschseins an sich aussagen. Aber um deine Frage zu beantworten, lass uns auf God Grows on Trees zurückkommen. Sobald ich den Bereich der Madrassah für junge Schüler betrat, knipste ich mit meiner Kamera Porträts. Ganz einfach, weil mich die Gesichter faszinierten, so wie das bei Kindergesichtern oft der Fall ist, was wohl ein ziemlich universales Phänomen ist, aber auch weil ich als Künstlerin das Pseudorollenspiel, eine "Zeugin" zu sein, mit mir herumschleppe. Später in meinem Atelier habe ich diese Aufnahmen während langer Zeit wieder und wieder durchgesehen. Und immer fand ich diese Gesichter und diese Kinder so vollkommen und zufrieden mit sich selbst. Als ich sie dokumentierte, hatte ich das Empfinden, dass ich einer sehr alten und vitalen Tradition des Lernens nicht mein eigenes kleines bisschen eindeutig unzureichenden Wissens hinzufügen sollte. Und das brachte mich dazu, mit dem Malen der Porträts zu beginnen und die Gesichter so getreu wie ich es nur konnte, fast wie eine Dokumentation, wiederzugeben. Ich malte einfach so lange Versionen der Porträts bis ich an dem Punkt anlangte, mich für einen Stil zu entscheiden, den ich bis zum Ende durchhielt. Als Künstlerin sehe ich die gegenwärtige Faszination in aller Welt für die Madrassah ähnlich wie die Faszination der orientalistischen Maler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts für den Harem, und es ist wohl überflüssig zu sagen, dass diese ziemlich reduziert und sensationalistisch ist. Meine Entscheidung, auf eine solche Weise zu arbeiten, war eine Antwort auf diesen Sensationalismus.
SP: Welche Rolle spielt der Digitaldruck des Fotos in dieser Arbeit?
HA: Ich fügte den Digitaldruck in einem viel späteren Stadium hinzu, und dieser gab dem Werk letztendlich den Titel God Grows on Trees. Es ist eine Aufnahme von Bäumen entlang einer Straße in Lahore, an die Metallschilder genagelt sind, auf denen die verschiedenen Namen oder Attribute Gottes stehen. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie ich sie als Kind vom Rücksitz des Autos aus auf dem Weg in die Schule gelesen habe. In diesem Falle funktioniert der Digitaldruck als ein Aufmacher, der durch die Zahl 99 auf die offenkundigste Weise mit den Malereien in Verbindung steht. Ich fand es schon immer ironisch, dass im modernen Kapitalismus mit seiner Anbetung des Mammons die Zahl 99 als eine psychologisch kritische Preisgrenze auf Preisschildern, Plakaten und in der Fernsehwerbung ebenso allgegenwärtig ist.
Sharmini Pereira
Kuratorin, Autorin und Direktorin von Raking Leaves in London, Vereinigtes Königreich.
God Grows on Trees. 2008
Gouache auf Wasli-Papier
3,5 x 3 cm (x 99)
C-print, 90 x 102 cm
In this there is a lesson for those who reflect. 2009
Installation
3,66 x 4,88 x 4,57 m
Für diese beiden Werke erhielt Hamra Abbas den Jury-Preis der 9. Sharjah Biennale, 2009.