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Interview mit Nadira Laggoune, Kritikerin und Kuratorin aus Algier.
Von Pat Binder & Gerhard Haupt | Okt 2009Haupt & Binder: Sie waren Kuratorin der Ausstellung Africaines (Afrikanische Frauen) und Ko-Kuratorin von La modernité dans l'art africain d'aujourd’hui (Die Moderne in der afrikanischen Kunst heute), die beide im Rahmen des diesjährigen Pan-Afrikanischen Kulturfestivals in Algier stattfanden. Welches sind Ihre Kriterien bei der Auswahl der Künstlerinnen und Künstler, insbesondere der aus Algerien, gewesen?
Nadira Laggoune: Meine Kriterien basierten auf zwei wesentlichen Überlegungen. Zum Einen sind die Möglichkeiten der Verbreitung zeitgenössischer Kunst durch Ausstellungen, Galerien, Workshops und Künstleraufenthalte in Algerien ziemlich rar. Deshalb bieten solche Veranstaltungen wie das Pan-Afrikanische Kulturfestival eine großartige Gelegenheit. Andererseits wissen wir nicht sehr viel über die in Afrika geschaffene Kunst, und künstlerischer Austausch existiert de facto nicht. Deshalb hielt ich es für notwendig, einen repräsentativen Überblick über zeitgenössische afrikanische Kunst zu geben, indem ich herausragende Künstlerinnen des Kontinents einbezog und außerdem besonderen Wert auf die Vielfalt zeitgenössischer Kunstpraxis legte. Deshalb wählte ich solche Künstlerinnen aus wie Ettoundi Essamba (Kamerun), Berni Searle (Südafrika) oder Hala El Koussy (Ägypten), aber auch Sithabile M’lothstwa (Zimbabwe) und Achilleka Komguen (Kamerun) wegen ihrer sozialkritischen Position. Ich räume ein, dass eine Auswahl immer auch persönlich ist und von eigenen Überzeugungen abhängt. Ich tendiere dazu, solchen Künstlerinnen und Künstlern den Vorzug zu geben, die sich für das aktuelle Geschehen, die Zukunft ihrer Gesellschaft und die Lage der Menschen engagieren. Ich verfolge auch das Prinzip, jüngere, noch nicht bekannte KünstlerInnen auszustellen, um sie am Anfang ihrer Laufbahn zu unterstützen.
Haupt & Binder: Was ist der üblich Weg, den ein junger Mensch in Algerien gehen muss, um Künstler zu werden?
Nadira Laggoune: Das ist schwierig, nicht nur für Algerier. Für die meisten kunstinteressierten jungen Menschen besteht der erste Schritt darin, eine Kunstschule zu besuchen und der zweite ist auszustellen, oder beides zusammen. Das erscheint zwar ziemlich logisch, verläuft aber nicht immer so. Auf Grund der zunehmenden Nutzung audiovisueller Medien (Foto, Video) haben viele junge KünstlerInnen heutzutage keinerlei nennenswerte künstlerische Ausbildung absolviert. Das Hauptproblem besteht aber im Fehlen von Ausstellungsräumen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, anerkannt zu werden, denn es gibt keine solchen klassischen Strukturen wie Kunstkritiker, Kunstzeitschriften, spezialisierte Galerien und Museen, etc.. Um ihr Talent zu verwirklichen, das Wissen zu erweitern oder die Anerkennung zu erlangen, die zu Hause nicht immer erreichbar ist, entscheidet sich eine große Zahl junger KünstlerInnen, ihr Land zu verlassen.
Haupt & Binder: Wie ist die gegenwärtige Situation der künstlerischen Ausbildung in Algerien?
Nadira Laggoune: Eine künstlerische Ausbildung wird im Wesentlichen von staatlichen Institutionen und einigen wenigen privaten Schulen angeboten. Es gibt in Algerien etwa zehn Kunstschulen, einschließlich der Ecole Supérieure des Beaux Arts Algiers (Hochschule der Schönen Künste Algier), die dem Kulturministerium unterstellt ist. Der Unterricht verläuft akademisch mit einer klassischen pädagogischen Struktur und orientiert auf die Beherrschung einer Technik: Malerei, Skulptur, Design und Islamische Künste. Aber die Studenten haben über das WWW einen umfangreichen Zugriff auf die neuen Medien (Video, Foto, Web Art...) und sind deswegen mit ästhetischen Erfahrungen jeglicher Art konfrontiert. Doch ist es eine im ganzen Land übliche Politik, Schulen zu eröffnen und eine gewisse Infrastruktur von Museen, Kulturhäusern, Kunsträumen etc. aufzubauen. Der Rest bleibt den Akteuren der Kunstwelt überlassen, also den Künstlern, Kritikern, Kuratoren...
Haupt & Binder: Wie viel Einfluss haben die modernen algerischen Meister heutzutage noch?
Nadira Laggoune: Moderne Meister wie Issiakhem, Khadda und Mesli sind in der Malerei Algeriens noch sehr präsent. Die Aouchem (Tätowier-) Bewegung, die 1967 als ein Bemühen um "ästhetische Dekolonisierung" mit der Idee initiiert wurde, moderne Kunst auf der Basis der "im algerischen kulturellen Erbe seit der Vorgeschichte existierenden Abstraktion" zu schaffen, führte zu einer "Schule der Zeichen", welche die ganze Malerei beeinflusst hat. Allzu lange kopiert, imitiert und sublimiert geistert dies immer noch durch die algerische Kunst.
Haupt & Binder: Wird die Karriere solcher international bekannten Künstlerinnen und Künstler wie Zineb Sedira, Kader Attia oder Zoulikha Bouabdellah in Algerien mit Interesse verfolgt?
Nadira Laggoune: Von diesen KünstlerInnen ist Zineb Sedira diejenige, die ihre Arbeiten in Algerien am meisten gezeigt hat. Sie stellte zwei- oder dreimal im Französischen Kulturzentrum in Algier aus, zeigte die Arbeit Muttersprache in einer privaten Galerie und beteiligte sich an diesen beiden Ausstellungen im Rahmen von Algier 2007, Arabische Kulturhauptstadt: L’Art Contemporain Arabe und L’Art au Féminin. Ich war die Kuratorin der Schau arabischer Künstlerinnen, in der Zoulikha Bouabdellah ihre bislang einzige Präsentation in Algerien hatte, denn sie kommt sehr selten hierher. Kader Attia stellte zwar niemals in Algerien aus, doch sind er und Zineb Sedira im Lande sehr präsent. Sie kommen oft und sind in die algerischen kulturellen Kreise gut eingeführt. Ihre Anwesenheit bewirkt künstlerische Auseinandersetzung und Austausch, die einen gewissen Einfluss auf jene Künstler haben, mit denen sie zusammentreffen.
Haupt & Binder: Organisieren sich Künstlerinnen und Künstler auch selbst, um eigene Arbeits- und Ausstellungsmöglichkeiten zu schaffen?
Nadira Laggoune: Es gab solche Versuche, aber aus unterschiedlichen Gründen sind sie nur sehr kurzlebig gewesen. Wirkliche Künstlerorganisationen in strukturierten Gruppen mit einem Programm und künstlerischen Veranstaltungen und Aktionen, gibt es im Grunde nicht. Mit der Union des Arts Culturels (Unac) existiert eine quasi offizielle Struktur, die offen für alle ist, die sich für Künstler halten, aber diese Organisation wird vom Staat unterhalten. Dennoch ist sie ein Raum für Anerkennung und die Zugehörigkeit gilt bei Künstlern in allen Regionen des Landes als ein Beleg für Qualität.
Haupt & Binder: Wie aktiv ist der Austausch mit den Nachbarländern? War das Kulturfestival in Algier auch dazu gedacht, Dialoge mit diesen fördern?
Nadira Laggoune: Trotz aller Einschränkungen gibt es einen wachsenden Kulturaustausch mit Marokko und Tunesien. Solche Veranstaltungen wie Algier, Arabische Kulturhauptstadt und das Pan-Afrikanische Festival sind außergewöhnliche Möglichkeiten, den künstlerischen Austausch zu entwickeln, denn ansonsten ist es zum Beispiel schwierig, das Reisen innerhalb Afrikas zu finanzieren. Diese Art von Events erlaubt (und hat das auch in der Vergangenheit schon getan), kreative Aktivitäten in den anderen Ländern zu entdecken und Beziehungen zu maßgeblichen Akteuren der Kunstszene, wie Kuratoren und Leitern von Institutionen, zu knüpfen. Künstlertreffen und -austausch sind von vitaler Bedeutung für eine Öffnung und die Möglichkeit, die künstlerische Praxis miteinander zu vergleichen.
Haupt & Binder: Was ist die größte Herausforderung für einen Kurator bzw. eine Kuratorin in Algerien?
Nadira Laggoune: Das ist eine ganz heikle und schwierige Frage. Wir befinden uns noch in einer Gesellschaft, in der sich die landläufige Vorstellung von der Tätigkeit eines Ausstellungskurators gerade erst von der Idee löst, sie würde einfach nur im Hängen von Bilder bestehen, was Künstler für gewöhnlich selbst tun. Nichtsdestotrotz gibt es eine Tendenz hin zu einem Wandel, und die Funktionen eines Kurators beginnen langsam aber sicher in die künstlerischen Gepflogenheiten Einzug zu halten. Die wirkliche Herausforderung ist eine tatsächliche Anerkennung der Rolle des Kurators beim Konzipieren einer Ausstellung als der eines Autors, der die Ergebnisse reiflicher Überlegungen präsentiert. Bei uns ist das noch nicht erreicht, aber diese Vorstellung wächst trotz des weithin verbreiteten Unverständnisses hinsichtlich der Bedeutung der Arbeit eines Kurators.
Pat Binder & Gerhard Haupt
Herausgeber von Universes in Universe - Welten der Kunst. Leben in Berlin.
Nadira Laggoune
Kunstkritikerin und Kuratorin. Lebt in Algier, Algerien.
Kuratorin der Ausstellung Africaines und Ko-Kuratorin von La modernité dans l'art africain d'aujourd’hui, Nationales Museum für moderne und zeitgenössische Kunst, Algier
Juli - August 2009