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Die dokumentarische Wende. Zaataris multipler Ansatz, der seine Praxis als Feldforschung definiert.
Von Suzanne Cotter | Apr 2009Akram Zaatari mag den Begriff "Archiv" nicht, wenn es um die Beschäftigung mit seinem Werk geht. Stattdessen zieht er es vor, über den vielfältigen Ansatz zu reden, der seine Arbeitsweise als "Feldforschung" definiert. Zaatari spielt bewusst mit den Genres der fotografischen Praxis und des Films, vom Studioporträt bis zum Dokumentarfilm. Indem er diese Traditionen in dem Bemühen aufnimmt, die aus den Verhältnissen des Krieges entspringende Dynamik des Bildermachens adäquat zu reflektieren, hat er eine umfängliche Praxis entwickelt, bei der er die Rolle des Sammlers, Forschers oder Kurators einnimmt. Er hält seine verschiedenen fotografischen und Filmporträts für "Studienobjekte", gesammelt unter dem Gesichtspunkt spezifischer Phänomene, sei es nun die fotografische Praxis im Libanon oder darüber hinaus im Nahen Osten oder die Vermittlung der Erfahrung des Eingesperrtseins und der Handlungen des Widerstands. [1]
Zaataris "Gewohnheiten des Aufzeichnens" haben mit den Jahren seines Heranwachsens im Libanon während des Bürgerkriegs zu tun. Er ist in der Stadt Saida im Süden des Landes in einer relativ behüteten Umgebung aufgewachsen. Angesichts geringer Möglichkeiten, die Wohnung seiner Eltern zu verlassen, entwickelte er die Gewohnheit, Notizen aufzuschreiben und von den ihn umgebenden Dingen und Vorgängen Fotos sowie Ton- und Filmaufnahmen zu machen. Dass es sich dabei u.a. um hoch oben von syrischen Kampfpiloten abgeschossene israelische Flugzeuge und um Nachrichten von der Bombardierung Beiruts oder um Propagandasendungen libanesischer Widerstandsgruppen handeln konnte, waren einfach nur Teile der täglichen Realität, die sich mit seinem Interesse für das Filmfestival in Cannes oder die jüngsten Popsongs des Sängers Sami Clark vermischten.
Der in Zaataris Werk verbreitete Sinn für einen Alltag, der außerordentliche Ereignisse beinhaltet, artikuliert sich insbesondere in seinen Erkundungen des Widerstands. Seine frühe Arbeit im dokumentarischen Stil All is Well on the Border (1997, Alles ist gut an der Grenze) wurde zum großen Teil in den südlichen Vorstädten von Beirut aufgenommen als er nicht in der Lage war, in den Süd-Libanon hinüberzugehen, der seit der israelischen Invasion 1978 das Herz der Widerstandsaktivitäten des Landes gewesen ist. Während diese Aktivitäten, die den südlichen Teil des Libanon unter dem Banner des "Nationalen Widerstandes" schützen sollten, anfänglich von einer Koalition zumeist säkularer, linksgerichteter Parteien angeführt wurden, gerieten sie nach und nach unter die Führerschaft der radikal-islamischen Hisbollah als der dominierenden Kraft, die sich der israelischen Okkupation widersetzte. Zaataris Film, eine wohl überlegte Montage aus Standbildern, aktuellem und archivarischem Filmmaterial aus Nachrichtensendungen und Propagandafilmen sowie aufgenommenen Interviews mit früheren Widerstandskämpfern und Gefangenen, legt in vielschichtigen Perspektiven Zeugnis vom Wesen des Widerstands ab. Als der libanesische Schriftsteller Rasha Salti über die Arbeit im Kontext eines "unkritischen Konsens" schrieb, der in Libanon seit dem Ende des Bürgerkriegs 1991 vorherrscht, hat er festgestellt: "Sie verteidigt eine vergessene Sache, spricht für die zum Schweigen Gebrachten und enthüllt eine Realität, die von der Darstellung ausgeblendet ist." [2]
Die gesammelten Dokumente als Belege des Hervorholens von Geschichten, die entweder im Laufe der Zeit verdrängt worden sind oder die einfach nicht erzählt werden können, sind ein zentrales Element von Zaataris Projekt des individuellen und kollektiven Porträtierens. Sein Film In This House (2005, In diesem Haus) dokumentiert die Suche nach einem Brief im Garten eines Hauses im Südlibanon, der dort von einem ehemaligen Widerstandskämpfer der Nationalen Front, der in den frühen 1980er Jahren hier gewohnt hatte, vergraben worden war. Das Format einer aufgeteilten Projektionsfläche präsentiert auf der einen Seite den Widerstandskämpfer - jetzt ein angesehener Fotojournalist -, der von seinen Erlebnissen in dem Haus berichtet, und auf der anderen Seite sieht man das Aufgraben des Gartens und die eventuelle Entdeckung des Behälters mit dem Brief darin. Der Fließtext, der die Erzählung begleitet, benennt die Besitzer des Hauses und eine Schar von Sicherheitsagenten, die die Operation überwachen und deren Gesichter nicht gefilmt werden dürfen, wie uns erzählt wird. Die Besorgnis darüber, wer oder was vom Film aufgenommen werden darf, in Verbindung mit der wachsenden Spannung als der Brief schließlich ausgegraben ist, lässt die schmerzliche Anspannung eines Landes in einem konstanten Zustand des Aufschiebens erkennen. Das Dilemma besteht darin, ob es besser ist, die noch nicht bewältigten Konsequenzen von Ereignissen der Vergangenheit hervorzuholen oder ganz einfach weiterzumachen und sie verschüttet zu lassen.
Dass Zaatari solche Werke wie In This House als Interventionen beschreibt, ist vielsagend. Basierend auf dokumentarischen Methoden produziert er physische und auch psychologische Auswirkungen auf die involvierten Leute und Orte. Bei den gegenwärtigen Besitzern des Hauses, in dem der vergrabene Brief aus einem noch verdrängten Zeitraum des Bürgerkrieges gefunden wurde, hat sich die Wahrnehmung durch dieses frisch aufgedeckte Wissen verändert. Später hat sich Zaataris Stil von der direkteren, wenn nicht gar reflexiven Art der Reportage von All is Well und In This House hin zum Konstruieren eines Szenarios entwickelt, auf das reale Charaktere reagieren. So ist sein Film Nature Morte (2008, Stillleben) ein intimes Porträt zweier Männer, die sich am Bau einer Bombe versuchen. Gefilmt im Inneren einer Hütte, bezieht es sein malerisches chiaroscuro von einer brennenden Gasleuchte als der Hauptlichtquelle, und der einzige Ton, der die Tätigkeit begleitet, ist der Ruf zum Gebet von einer entfernten Moschee. Am Ende des Films entfernen sich die beiden Männer zusammen draußen in der frischen Luft eines schroffen Berghangs, einer von ihnen mit einem Rucksack, in dem er vermutlich das explosive Gerät trägt.
Zu Zaataris Projekt gehört auch, dass er sein im Laufe der Zeit gesammeltes Material neu sichtet. Für Letter to Samir (2008, Brief an Samir) filmte er Nabih Awada - dessen Spitzname Neruda ist -, der ab seinem 16. Lebensjahr zehn Jahre lang in Israel inhaftiert war. Awadas poetische Briefe an seine Mutter aus den Jahren seiner Gefangenschaft gehörten schon zum Inhalt von All is Well on The Border. Die Briefe von Awada sind auch Gegenstand einer jüngeren Serie von stilllebenartigen fotografischen Porträts, in denen die Schrift gelöscht ist, so dass nur die emotional bewegenden Verzierungen des Autors in Form gezeichneter farbiger Blumen übrigbleiben. Zaatari sagte über den Akt des Löschens des Textes: "Was wichtig ist oder war, kann nicht gesagt werden. Der Inhalt ist irrelevant; es reicht, die Zeichnungen zu sehen." [3]
Als Antwort auf ein Pressefoto von Samir al-Qintar, den am längsten in Israel inhaftierten libanesischen Gefangenen, der im Sommer 2008 freigelassen worden ist, bat Zaatari Nabih Awada, dem früheren Mitglied der PLO zu schreiben und al-Qintar zu fragen, warum er bei seinem ersten öffentlichen Auftritt nach der Freilassung mit Führern der Hisbollah fotografiert wurde und die Uniform ihrer islamistischen Partei trug. Aufgenommen in Echtzeit beginnt Awada damit, al-Quintars Vornamen zu nennen, bevor er einen Brief schreibt, dessen Inhalt uns verborgen bleibt. Die zweite Hälfte des 32-minütigen Films zeigt Awada dabei, den Brief in eine kleine Kapsel zu falten, die er mit mehreren Schichten Plastik umhüllt. Diese Methode legt nahe, dass die Mitteilung verschluckt oder in einer Körperöffnung verborgen werden könnte, was eine übliche Möglichkeit ist, Botschaften zwischen den Zellen oder von einem Gefängnis zum anderen zu schmuggeln. Dass die Geschichten von Awada und seinem erdachten Briefpartner vom gemeinsamen nationalen Kampf und Gefangenschaft zeugen, ist ihr grundlegender Dreh- und Angelpunkt und von zentraler Bedeutung für die unausgesprochene Erzählung des Films. Wir können uns nur vorstellen, was Awada an seinen Landsmann geschrieben haben könnte, sei es das Mitgefühl für seine Jahre der Gefangenschaft, die Sache für die sie gekämpft haben oder die Verwirrung über den scheinbaren Wandel der ideologischen Gefolgschaften.
Die Berge und Täler der Bauernhöfe von Shebaa sind im Fokus eines neuen, aber verwandten Gebiets von Zaataris fortdauernder fotografischen Forschung. In dieser felsigen und hart umkämpften Landschaft an der Grenze Libanons zu Israel und Syrien filmte er Nature Morte. In Zaataris großformatigen Fotografien desselben Gebiets setzt sich seine Faszination für diesen schaurig unbewohnten, streng bewachten Landstrich fort. Wenn er über die Fotos spricht, erlaubt sich Zaatari, den Begriff "Archiv" zu verwenden, denn hier in diesen Bergen und auf diesem Boden könnte man die Kartographie des klandestinen Widerstands zeichnen. Obwohl das Bild nur das offenbart, was nicht enthüllt oder gesagt werden kann, ist die Spannung seiner Geheimnisse fühlbar. Angesichts der Unmöglichkeit, diese Bilder als reine Landschaften zu sehen, sind wir Zeugen der Überschattung einer Tradition, ihres Rückzugs - falls sie überhaupt existierte - und der Produktion einer vollkommen neuen Art des Sehens, einer die auf die Frage des Bildes als einem glaubwürdigen Produzenten von Inhalt in einer Weise zu antworten scheint, die den Beginn einer neuen Tradition erlauben könnte.
Anmerkungen:
Suzanne Cotter
Senior-Kuratorin von Modern Art Oxford, Vereinigtes Königreich.
Earth of Endless Secrets
28. März - 28. Mai 2009