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Performances und Installationen in Saudi-Arabien zu ökologischen, sozialen, politischen Themen.
Von Henry Hemming | Nov 2008Abdulnasser Gharem ist in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst Saudi-Arabiens einzigartig. Niemand sonst hat eine Karriere in der Armee des Landes mit einem Leben als ein auf Performance und ortsgebundene Installationen spezialisierter Künstler kombiniert. Gharems Atelier ist die Straße (oder wo auch immer sich eine künstlerische Gelegenheit bietet). Mit seiner kritischen Einstellung ist er jemand, der den Wert der Kontingenz versteht. Das gehört zum Kern seiner Kunstpraxis, zusammen mit seinen sozialen, ökologischen oder politischen Anliegen. Neben Ahmed Mater ist Gharem einer der Stars von Edge of Arabia, der ersten großen Ausstellung zeitgenössischer Kunst Saudi-Arabiens in London, die vom 16. Oktober bis zum 13. Dezember in der Brunei Gallery zu sehen ist.
Abdulnasser Gharem wurde 1973 in Khamis Mushait in der Nähe von Abha geboren und studierte im Al-Miftaha Künstlerdorf, bevor er sich von der Malerei weg hin zur Performance bewegte. Eine seiner frühesten Arbeiten in dieser Disziplin ist Flora und Fauna, gezeigt in der Sharjah Biennale 2007. Es ist die Dokumentation einer Performance in Abha, bei der Gharem einen der die Hauptstraße entlang stehenden Cornocarpus Erectus Bäume und sich selbst darunter in Plastikfolie einpackte und den ganzen Tag lang so verharrte, wobei er nur durch den vom Baum abgegebenen Sauerstoff überlebte. Es war eine treffende Aussage über die Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt sowie zur Rolle von Technokraten bei der Gestaltung des urbanen Raumes. Diese Bäume, die man in Abha häufig sieht, sind aus Australien eingeführt worden, und obwohl sie beeindruckende Mengen an Sauerstoff von sich geben, haben sie desaströse Auswirkungen auf das Wachstum der einheimischen Bäume.
Henry Hemming: Welche Reaktionen hast du darauf erhalten? Du sagtest früher, dass dergleichen zum ersten Mal in Abha passierte.
Abdulnasser Gharem: Die Leute dachten, ich sei verrückt. Aber sie wollten mehr erfahren. Sie sind nicht so engstirnig, deshalb kamen sie näher und fragten. Als sie erfuhren, worum es geht, fanden sie es gut.
H.H.: Wenn du die Macht dazu hättest, würdest du die Cornocarpus Erectus Bäume aus Abha entfernen?
A.G.: Sofort. Aber wichtiger sind die Lehren für die Zukunft. Unsere Architekten und Planer müssen in ihren Entwürfen die Umweltaspekte sorgsamer berücksichtigen. In dieser Hinsicht muss unsere Vorgehensweise besser werden. Wir brauchen eine philosophische Analyse der Beziehung zwischen dem Technologischen und dem Natürlichen.
H.H.: Kannst du den Hintergrund der Arbeit Al Siraat erläutern, die du etwas später am Tihama Streifen [1] geschaffen hast?
A.G.: Sie hat mit der Geschichte der Brücke zu tun. Im Jahr 1982 machte eines Tages, nachdem es heftig geregnet hatte, das Gerücht die Runde, dass sich eine Sturzflut das Tal hinunter ergießen würde. Deshalb beschlossen die in der Nähe lebenden Dorfbewohner, auf der Betonbrücke Schutz zu suchen. Sie setzten ihr ganzes Vertrauen in den Beton. Sie versammelten sich dort mit ihren Fahrzeugen und ihrem Vieh und warteten. Dann kam die Flut, doch sie schwemmte die Brücke mitsamt den Leuten darauf hinweg. Viele Jahre später habe ich die Überreste dieser Brücke mit dem Wort Al Siraat bedeckt. Um das zu tun, waren drei Tage harter Arbeit und viele Helfer nötig.
Al-Siraat kann in Arabisch "der Pfad" oder "der Weg" im spirituellen Sinne des Wortes bedeuten: es geht dabei um die Wahl, die man im Leben immer wieder zu treffen hat, und ob man einem geraden Pfad folgt oder nicht. Es kann sich auch auf die Brücke beziehen, vor der man bei seinem Tod steht, die diese Welt mit der nächsten verbindet.
Gharem zeigt Details des Ortes, an dem diese Arbeit entstand, auf seiner Website und erhält immer wieder Emails von Kunsttouristen, die aus Riad anreisen, um diesen zu besichtigen. Daraus ist so etwas wie ein Kult geworden, und das ist auch gut so. Es ist eine beeindruckende Arbeit: eine ideale Verschmelzung von Form und geographischem Kontext, von Konzept und Ausführung, von Erinnerung und Zeit, von internationaler zeitgenössischer Kunst und saudischer Alltagskultur.
"Aber weißt du, worum es bei dieser Arbeit eigentlich geht?" fügt Gharem hinzu. "Zufall. Ich sah diese Brücke, begriff ihre Geschichte und improvisierte. Ich bemühe mich immer, umzudenken. Und das ist sehr wichtig für mich. Ich habe kein Atelier, deshalb ist mein Atelier überall dort, wo ich Menschen oder Spuren von ihnen treffen kann. Wenn ich eine Gelegenheit finde, muss ich sie ergreifen."
In Zufall und Notwendigkeit argumentiert der französische Biochemiker und Nobelpreisträger Jacques Monod, dass man nur durch "absoluten Zufall" - d.h. Koinzidenz, Kontingenz, die Kollision, zu der es kommt, wenn zwei nicht zueinander in Beziehung stehende Sequenzen zusammentreffen und jemand daraus einen Vorteil zieht - die Möglichkeit des "absolut Neuen" entsteht. Gharem verkörpert diese Möglichkeit.
In einem weiteren Sinne repräsentiert Gharem die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der zeitgenössischen Kunst Saudi-Arabiens. Er begann seine Laufbahn, indem er technisch beeindruckende Aquarelle malte, doch in den letzten acht Jahren hat er seine Ausdrucksmöglichkeiten an eine dramatische Erweiterung seines künstlerischen Horizonts angepasst. Besonders fasziniert die Art, wie er auf die inhärenten Herausforderungen oder die von der westlichen zeitgenössischen Kunst ausgehenden Bedrohungen antwortet. Statt deren neueste Hervorbringungen zu imitieren oder davon zu träumen, Saudi-Arabien zu verlassen und im Ausland künstlerisch tätig zu sein, hat Gharem ihre Methodologie verinnerlicht und sie mit der Zeit kolonisiert. Das Werk, das er jetzt produziert, ist absolut in dessen (und seinem eigenen) geographischen und sozialen Kontext verwurzelt.
Er meint dazu: "Das einzige was ich fürchte, ist keine Ideen mehr haben zu können, aber das würde nur passieren, wenn ich das Land verlasse oder nicht mehr mit den Leuten rede." So repräsentiert sein Schaffen vielmehr einen Kommentar zu und eine Verbindung mit seiner Umgebung als eine ichbezogene Kritik.
Für Gharem und andere gleichgesinnte Erneuerer hat die Zukunft des Künstlers in Saudi-Arabien nichts mit einer im Atelier isolierten Person zu tun, die mit einer auf den Daumen geklemmten Palette vor der Leinwand steht und - im metaphorischen Sinne - ein Barett statt des traditionellen Kopftuchs trägt. Stattdessen ist der Künstler bzw. die Künstlerin ein Mann oder eine Frau, die in der Lage sind, die Kontingenz anzuerkennen und zu ihrem Vorteil auszunutzen. Sie sind nicht dort, um zu protestieren oder um Schönheit allein der Schönheit wegen zu schaffen. Vielmehr gilt es, in der Realität der von ihnen vollzogenen Prozesse ein ästhetisches Potenzial ausfindig zu machen.
Für Gharem und andere gleichgesinnte Erneuerer hat die Zukunft des Künstlers in Saudi-Arabien nichts mit einer im Atelier isolierten Person zu tun, die mit einer auf den Daumen geklemmten Palette vor der Leinwand steht und - im metaphorischen Sinne - ein Barett statt des traditionellen Kopftuchs trägt. Stattdessen ist der Künstler bzw. die Künstlerin ein Mann oder eine Frau, die in der Lage sind, die Kontingenz anzuerkennen und zu ihrem Vorteil auszunutzen. Sie sind nicht dort, um zu protestieren oder um Schönheit allein der Schönheit wegen zu schaffen. Vielmehr gilt es, in der Realität der von ihnen vollzogenen Prozesse ein ästhetisches Potenzial ausfindig zu machen.
Anmerkung:
Henry Hemming
Autor und Künstler. Veröffentlichte bislang drei Bücher; Ausstellungen im Nahen Osten und in Europa.
Abdulnasser Gharem
* 1973 Khamis Mushayt, Saudi-Arabien.