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Unkonventionelle Projekte, lokale Verankerung, internationales Netzwerk der Initiative in Istanbul.
Von Sarah-Neel Smith | Sep 2007Für Besucher von Istanbul und selbst für die meisten Bewohner der Stadt ist die lokale Kunstszene eine fremde Welt. Und zu dieser Welt gibt es keine Reisebücher, keine Stadtpläne und keine Touristenführer, die einen bei der Hand nehmen. Ohne solche Hilfsmittel können die kleinsten Probleme zu unüberbrückbaren Schwierigkeiten werden.
Projekt Künstlerinformation
PiST/// [1], eine nichtkommerzielle Künstlerinitiative, die sich im Mai 2006 im Viertel Pangaltı niederließ, will mit ihrem aktuellen Projekt Artist Information dazu beitragen, den Mangel an Informationen über zeitgenössische Kunst in Istanbul auszugleichen. Der im August 2007 für Besucher geöffnete Raum ist so glatt gestaltet, wie die auf städtischen Plätzen, Flughäfen und an Tourismusorten in aller Welt üblichen Informationsstände. Eine lächelnde Person wartet hinter dem Schreibtisch, bereit die Fragen zu beantworten.
Die Besucher der Artist Information wollten wissen: Wo in Istanbul kann ich eine 12-Millimeter-Kamera mieten? Wie viele Sammler zeitgenössischer Kunst gibt es in der Stadt? Was bedeutet der Begriff "ethnisch" und wie funktioniert er bezogen auf die Gegenwartskunst der Türkei? PiST beabsichtigt, eine Liste solcher Fragen mit den Antworten darauf zusammenzustellen und zu veröffentlichen. In manchen Fällen wird PiST Künstler und Kuratoren zur Beantwortung hinzuziehen. Aber statt nur eine einzige "korrekte" Auskunft auf jede Frage zu liefern, wird PiST eine Reihe möglicher Antworten auch von Menschen außerhalb der Kunstwelt einbeziehen.
Mit Artist Information profitiert PiST von ihrem unabhängigen Status, um die Ansprüche der Tourismusindustrie und des Kunstbetriebs auf alleiniges Expertenwissen zu kritisieren. Aber das Projekt bringt auch produktivere Resultate hervor: indem es jedem einzelnen einen potenziellen "Experten-"status gibt, wird es zu einem Forum, in welchem die Beteiligten die Schwierigkeiten des Produzierens und Ausstellens ihrer Kunst gemeinsam herausarbeiten können. Tatsächlich plant PiST sein Projekt
Artist Information mit einer Reihe von Rundtischgesprächen abzuschließen, die viele neu gefundene "Experten" zusammenbringen, um acht der Fragen zu diskutieren, die an den Informationsstand herangetragen worden sind. Als zusätzliche Erweiterung des Projekts hat PiST einen "Führer" produziert, einen Kalender von Kunstveranstaltungen, genannt LiST, und ab Mitte September "Touren" angeboten, d.h. von Künstlern geleitete Rundgänge durch die Stadt.
Wie artikuliert sich eine lokale Sprache?
Obwohl das Projekt Artist Information von PiST neue Beziehungen mit internationalen Besuchern stimulierte, kam es kaum zur Interaktion mit der unmittelbaren Nachbarschaft. Das Viertel ist nur wenig entfernt von Taksim (lediglich eine U-Bahnstation), wo sich die Mehrzahl der Kunstorte der Stadt konzentriert. Doch PiST ist in diesem Gebiet ein einmaliges Phänomen. "Wir haben niemals irgend etwas dieser Art gesehen", meint ein lokaler Teeverkäufer namens Ali.
Ladenbesitzer und Anwohner beobachten das Geschehen in dem Kunstraum auf die gleiche Weise, wie man einem exzentrischen Nachbarn nachspionieren würde: zwar mit schwankender Neugier, doch mit einem geringen Bedürfnis, mehr als nötig mit ihm in Kontakt zu treten. Im Großen und Ganzen zögern die Anlieger, mehr über PiST herauszubekommen, weil sie den Eindruck haben, es würde sich dabei vor allem um einen Ort für Ausländer handeln.
PiST/// 7-24, ein ständig wechselndes Schaufenster zur Straße hin, findet den größten Zuspruch. "Die Leute mögen das Schaufenster", sagt ein Ladenbetreiber. "Sie kommen und sehen sich neugierig die neuesten Bilder an."
Seit der Eröffnung 2006 ist PiSt langsam dazu übergegangen, das zu vertiefen, was die Gründer Didem Özbek und Osman Bozkurt ihre "Erforschung" der Nachbarschaft nennen. Beide lebten schon seit Jahren gleich um die Ecke, bevor sie PiST eröffneten, und die Entscheidung, den Kunstraum hier zu etablieren, resultiert aus ihrer persönlichen Beziehung zu dieser Gegend. Zum Teil handelten sie aus einer Frustration heraus. Überall um sie herum behaupteten sich andere Bewohner im öffentlichen Raum - indem sie lautstark Tee anboten, das Parken regulierten oder sich auf offener Straße stritten. Indem sie drei nebeneinander liegende Geschäfte belegten (einen früheren Elektroladen, ein Restaurant und ein Gemüsegeschäft), schuf sich das Paar zwischen all den anderen Läden und Bars Raum für ihre eigenen Kunstinteressen.
Noch immer ist es ein schwieriger Prozess, in der Straße vor allem als "PiST" und nicht mehr so stark als "Didem und Osman" wahrgenommen zu werden. Es ist nicht klar, ob die Zurückhaltung der Anwohner eine Reaktion auf den ambivalenten Status von PiST ist, oder ob solch eine Einstellung darauf schließen lässt, dass PiST sich erfolgreich in ein Umfeld eingliedert, in dem "leben und leben lassen" der allgemein akzeptierte Code des Viertels ist. Immerhin sehen hier nicht alle Geschäfte die Notwendigkeit, sich nach außen hin als etwas Spezifisches darzustellen. Einige sind einfach nur dort, wie z.B. ein Handwerker, dessen mit Holz gefüllter Laden statt eines Schildes darauf verweist, was er tut.
Verzweigung: Türkische Pavillons
Mit dem Projekt Türkische Pavillons tat PiST im Jahr 2007 den bislang gewagtesten Schritt. Pangaltı ist bekannt für zahlreiche pavyon Bars, die PiST auf allen Seiten umgeben. Das Wort pavyon steht für eine spezifisch türkische Art einer zwielichtigen Bar, einen Nachtklub mit lauter Musik, jeder Menge Drinks und einer durchweg weiblichen Belegschaft, von der die ausschließlich männliche Kundschaft bedient und unterhalten wird.
Aber Pavillon ist auch ein Begriff aus der Welt der Kunst. Am bekanntesten sind wohl die Länderpavillons der Biennale von Venedig, in denen seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Kunst nach geographischem Auswahlprinzip präsentiert wird. Schon mehrfach gab es in Venedig auch einen von der Türkei finanzierten türkischen Pavillon.
Für eine Nacht fand das Projekt Türkische Pavillons gleichzeitig in PiST und in der benachbarten Golden Gate Bar (pavyon) statt. Durch die Überblendung von Bildern und Videomaterial aus Venedig und Istanbul stellte das Projekt zwei Arten von Pavillons gegenüber, die beide Ausstellungsräume mit eigenem Existenzrecht sind. Die Kundschaft des pavyon und Leute aus der Kunstszene vermischten sich an beiden Orten und auf der Straße, die mitunter so voller Menschen war, dass Autos nicht mehr durchkamen. Doch als sich Bozkurt bei den Nachbarn für die ungewollte Störung entschuldigen wollte, winkten sie ab und dankten ihm dafür, dass es in dieser Sonnabendnacht etwas mehr Leben auf ihrer Straße gab.
Für einige war Türkische Pavillons ein humorvoller Blick auf verschiedene Repräsentationen nationaler Identität oder ein ironischer Vergleich zwischen einer trashigen Unterhaltungsbranche und der Ausstellungspraxis in einer für ihre vielfältigen Festivals berühmten Stadt, für andere hingegen ein anstößiges Vorzeigen der "Fleischbeschau" in den pavyon Bars. Aber für PiST besteht die größte Bedeutung in einem weiteren Schritt im Rahmen der "Forschung" und Suche der Initiative nach einer eigenen Position in ihrem Umfeld in Istanbul. Die unkonventionelle Nutzung ehemaliger kommerzieller Räume durch PiST und 24-Stunden-Programme verankern die Künstlergruppe in einer Weise in der umgebenden Anwohnerschaft, die keinem anderen Kunstraum in Istanbul gelingt. Es bleibt abzuwarten, zu welcher Art von Pavillon PiST selbst wird.
Anmerkungen:
Sarah-Neel Smith
Freischaffende Autorin und Forschungsstipendiatin in Kunstgeschichte an der Ecole Normale Superieure, Paris.