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Assoziationsreiche Fotos der Küste Tunesiens, aufgenommen mit einer Lochkamera.
Von Helen Adkins | Feb 2007Auf Fragen zu seinem Werk "Über die Küsten hinweg" reagiert Hichem Driss recht zurückhaltend. Er gibt Auskünfte technischer Art und liefert eine Erklärung, warum er sich bei dieser Arbeit entschied, mit einem simplen Apparat aus der Frühzeit der Fotografie zu arbeiten. Er erklärt, dass diese Serie an der felsigen Mittelmeerküste entstand und dass er zur Realisierung des Werks eine Lochkamera für das Polaroid-Format von 4 x 5 Zoll baute. Driss experimentiert gern. Eine Lochkamera verwendete er erstmals 1999. Damals wollte er sich in die Lage versetzen, mit Augen und Geist gleichermaßen fotografieren zu können. Die Lochkamera ermöglicht es ihm, zu erfassen, was das menschliche Auge niemals sehen könnte. Ohne Objektiv ist das Bild weicher und zeigt eine verzerrte Perspektive. Alles was sich bewegt kann aus den Fotos verschwinden, weil sein kurzes Erscheinen von der lichtempfindlichen Emulsion nicht zu erfassen ist; am Ufer sind nur die Felsen klar und deutlich zu erkennen, da sie sich in ihrer Unbeweglichkeit von der Wildnis des Himmels und des Meeres abheben. Driss sagt, dass das verfahrensbedingte Verschwimmen der Konturen uns ermöglicht, alle Orientierungspunkte in Raum und Zeit auszulöschen, um den Eindruck von Unsterblichkeit und Zeitlosigkeit zu erzeugen.
Jede weitere Interpretation von "Über die Küsten hinweg" obliegt dem Betrachter; es liegt bei uns, ob wir in diesen schönen und faszinierenden Bildern geradlinige Naturstudien sehen oder eine Assoziationskette entstehen lassen, die von ihrem allegorischen Wert zu aktuellen Ereignissen führt.
Wegen seiner geografischen Lage diente Tunesien schon immer als natürliche Verbindung von Afrika nach Europa. Bereits 800 v. Chr. erkannten die aus Tyros kommenden Phönizier den strategischen Wert dieser Küstenregion am Mittelmeer und gründeten die Stadt Karthago (das heutige Tunis), die sich in kürzester Zeit zu einem wichtigen Seehafen entwickelte. Karthago wurde zweimal zerstört, stieg jedoch wieder aus der Asche empor und stellt heute einer der größten archäologischen und architektonischen Schätze der Welt dar. Seine Macht schwand mit dem Untergang des Römischen Reiches, aber seine Ruinen vermitteln uns noch immer einen Eindruck längst vergangener Pracht.
In den letzten Jahren machten die glorreichen mythischen Küsten Tunesiens, die von Touristen traditionell hoch geschätzt werden, aufgrund eines ganz anderen Phänomens Schlagzeilen, das allerdings ebenfalls mit der geografischen Lage in Zusammenhang steht. Mangelnde Zukunftsperspektiven, Arbeitslosigkeit, Armut und schiere Verzweiflung bringen die Menschen dazu, den afrikanischen Kontinent mit dem Wunsch zu verlassen, das europäische Eldorado ihrer Träume zu erreichen. Die tunesische Küste ist der wichtigste Ausgangspunkt für die Schiffe, die diese heimlich beförderten Passagiere an die europäischen Küsten oder, genauer gesagt, an Zielorte an den Stränden Italiens bringen. Visabeschränkungen führen zu illegalen Emigrationsversuchen, skrupellosem Menschenhandel und einem tragischen Tribut an Menschenleben auf See.
Die Fotos von Hichem Driss zeigen, wie die imposante Schönheit der Natur mit dramatischer Gefahr einhergeht. Die verzerrten Weitwinkelaufnahmen dokumentieren den starken Wind und die raue See und vermitteln eindringlich das spektakuläre Erscheinungsbild und die dennoch abgrundtiefe Bedrohlichkeit der Natur. Das kleine Bildformat unterstreicht eine Art von Intimität: Obwohl diese Natur keinerlei Spuren menschlichen oder tierischen Lebens zeigt, wurden die Aufnahmen offenbar von jemandem gemacht, der sich diesen Naturgewalten aussetzen musste. Jeder kann eine Lochkamera basteln, das entstandene Foto passt in jede Hosentasche. Diese Fotos können als Offenlegung der Gefühle verstanden werden, die Emigrantinnen und Emigranten bewegen, bevor sie den afrikanischen Kontinent verlassen und sich auf eine gefährliche und illegale Reise begeben.
Das ist es, was ich in der Fotoserie "Über die Küsten hinweg" sehe. Aber die Bilder sind offen für unterschiedliche Interpretationen. Driss vermeidet direkte Provokation oder offene Kritik. Er zeigt einfach die Ambivalenz zwischen einer magischen Atmosphäre und brutaler Realität. Allein die Wahl des Motivs kann politische Bezüge nahe legen. In ähnlicher Weise hat Driss auch andere poetische Beiträge realisiert, die Szenen aus Tunesien dokumentieren, in denen Tradition und moderne Ethik aufeinander prallen.
Helen Adkins
Freiberufliche Kunsthistorikerin und Ausstellungskuratorin, lebt in Berlin, Deutschland.
Über die Küsten hinweg
À travers les Côtes
1999-2004
35 mit einer Lochkamera aufgenommene Schwarzweiß-Fotografien
Originalmaß 4 x 5 Zoll (10,16 x 12,7 cm); komplette Serie von Abzügen 30 x 40 cm, eine Auswahl 18 x 24 cm