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Rezension der 10. Biennale Istanbul 2007 im Kontext der Kunstszene der Bosporus-Metropole.
Von Sabine B. Vogel | Okt 2007Sie zählt zu den wichtigsten und ältesten Biennalen und hat nach zwanzig Jahren Pionierarbeit 2007 erstmals ein pralles kommerzielles und alternatives Parallelprogramm zur Seite. Zwar gibt es mit dem Platform Garanti Contemporary Art Center [1] seit 2001 und dem Museum Istanbul Modern [2] seit 2004 zwei permanente Ausstellungsorte für zeitgenössische Kunst, aber in der Stadt eingebettet war die Kunst damit noch lange nicht. Das spiegelte sich auch in dem Biennale-Motto "contemporary art in traditional spaces" wieder, unter dem die ersten acht Ausgaben an historischen Orten wie der Hagia Sophia und der Yerebatan-Zisterne unentschieden blieben zwischen touristischer Rückwärtsgewandtheit und temporärem Gegenwartsbewusstsein.
Vor zwei Jahren hat dann das Kuratorenteam Vasif Kortun und Charles Esche die immer wieder als romantisierende Attitüde kritisierte Raumwahl durchbrochen. Sie bestimmten "Istanbul" zum Thema und legten den Fokus auf das gegenwärtige Leben. Also führte uns unser Parcour nicht mehr in die historischen Stätten, sondern in leerstehende Büroräume, Fabriken und Wohnungen. Jetzt, zwei Jahre später, sind diese Orte neu besetzt. Beral Madra, Koordinatorin und Kuratorin der ersten beiden Istanbul Biennalen, bietet im BM-Suma Contemporary Art Center [3] zwei Etagen zur Anmietung für Ausstellungen an. In einer ehemaligen Tabakfabrik ist eine ambitionierte Galerie eröffnet worden und rund um die zentrale Einkaufsstraße İstiklal Caddesi haben sich mittlerweile zwölf Galerien angesiedelt, die mit einem neuen Selbstbewusstsein türkische Künstlerinnen und Künstler, wie z.B. Ahmet Elhan, zeigen oder die wie das Apartment Project [4] gezielt Vernetzungsarbeit leisten.
Istanbul ist aufgewacht. Mit welchem Anspruch tritt die Biennale jetzt auf? "It's not only possible, but also necessary – optimism in the age of global war" tituliert Hou Hanru die 10. Edition und lässt die Biennale in die Stadt ausschwärmen. In der Nacht ist das Projekt "Nightcomers" unterwegs, das in wechselnden Bezirken Videos im öffentlichen Raum projiziert. Am Tag nehmen an drei Hauptorten 96 KünstlerInnen aus 35 Ländern die Welt als Problemfall in den Blick. Der Titel konkretisiert sich hier als kritische Reflexion über die Moderne und ihre Folgen. So beginnt die Tour konsequenterweise am Taksim-Platz, einem Symbol für das 'moderne' Istanbul, an dem das Monument für die Republik und das Atatürk-Kulturzentrum [5] stehen. Der Kulturpalast in sozialistischer Modernismus-Architektur soll abgerissen werden, und so überschreibt Hanru diesen Ausstellungsteil "Burn it or not?". Um diese Frage kreisen auch die vierzehn Beiträge im Atatürk-Kulturzentrum, wenn etwa Vahram Aghasyan (Armenien) in eindringlichen Bildern vom Illusionsverlust angesichts der Moderne erzählt und ruinenhafte Wohnbauten in Wasserfluten versinken lässt.
Das ist übrigens einer der bemerkenswerten Verdienste dieser 10. Edition: Die Themen finden sich tatsächlich in den Werken gespiegelt. Am zweiten Ort, einer Art Shoppingcenter für alles was mit Textilien zu tun hat [6], wird der Blick auf Produktionsbedingungen und ökonomische Entwicklungen gelenkt. Seinen lautstarken Höhepunkt findet dergleichen dann in der ehemaligen Lagerhalle Antrepo Nr. 3 [6], wo es um Globalisierungschancen und -gefahren geht. Das Problem ist allerdings: Im Atatürk-Kulturzentrum können sich die wenigsten Werke gegenüber der faszinierenden Innenraumgestaltung behaupten und auch im Markt der Textilhändler gleiten viele Beiträge auf dem dominanten Ambiente aus, wenn sie mit langatmigen Doku-Videos, textlastigen Recherchen oder allzu simplen Wanddiagrammen aufklärerische Arbeit leisten wollen, die kaum jemand wahrnimmt. Und nur den wenigsten KünstlerInnen gelingt es, eine eigene Ästhetik zu entwickeln, so wie z.B. Chen Chieh-Jen, der uns in den Bann seiner halb realen, halb fiktiven Erzählungen zieht. Abgesehen von solchen Beiträgen wie den Landkarten von Raqs Media Collective, dem Video "The History of Chemistry" von Lu Chungsheng oder den von Tadej Pogačar im Rahmen der São Paulo Biennale 2006 gemeinsam mit Prostituierten hergestellten Kleidern dominieren hier die Niederlagen. Viele Beiträge sind angesichts allzu vieler Information komplett unverständlich, sind katastrophal schlecht projiziert oder von derartig geringer ästhetischer Qualität, wie Lordy Rodriguez' Landkarten oder Sora Kims hilfloses "Kreditbüro", dass einem nur noch schnelles Weitergehen übrigbleibt.
Völlig überwältigt werden wir dann in Antrepo No. 3. Sämtliche Videos sind auf höchste Lautstärke gedreht, Cao Feis Vorschlag einer neuen Stadt für "Second Life" und Fikret Atays Trommelwirbel über den Dächern Istanbuls kennzeichnen die Stimmung. Offenbar will Hou Hanru hier das hektische Metropolenleben in das Reich der Kunst holen und zeigt vorwiegend Werke voller Aggressivität – als bestimmendes Lebensgefühl? Hamra Abbas' Kamasutra-Figuren mit Gewehren, Adel Abdessemeds Skulpturen aus Messern, David Ter-Oganyans simulierte Zeitbomben, Huang Yong Pings wie eine Rakete auf der Abschussrampe präsentiertes Minarett oder die Fotoinszenierungen der russischen Künstlergruppe AES+F von Mord- und Selbstmordszenen androgyner Teenager. Dazwischen sind aber immer wieder Auswege geöffnet, meditative Werke wie Ken Lums "House of Realization", Paul Chans Lichtprojektion oder Kan Xuans Video von Alltagsdingen, die ins Wasser fallen, schwarzweiß projiziert sind und im sie begleitenden Sound Farben zugesprochen bekommen. Manche Werke gehen in der brachialen Kombination von Besinnlichkeit und Überwältigung nahezu unter, etwa Michael Rakowitz' großartige Installation, die schon zu den Höhepunkten der diesjährigen 8. Sharjah Biennale gehörte. Auf einem Tisch stehen lauter kleine Skulpturen aus Pappmaché - Nachbauten einiger der über 7000 Kunstschätze des Irakischen Nationalmuseums, die im Irakkrieg verloren gegangen sind und gestohlen wurden.
Hou Hanrus Biennale spaltet die Besucher. Manche erleben die lautstarke Präsentation in Antrepo Nr. 3 als Zumutung, andere als energetisch. Den im Titel angesprochenen "global war" an den Ausstellungsorten zu finden, ist eine Herausforderung an unsere Interpretationskraft. "Optimismus", der andere konzeptuelle Eckpfeiler, lässt sich noch weniger darstellen und kommt vielleicht am ehesten in der "Nachtseite" der Biennale zum Ausdruck: als "Dream House" hat Hou Hanru ortsspezifische Installationen auf der Hauptebene und in den beiden eingebauten Emporen von Antrepo Nr. 3 zusammengefasst. Dazu gehört Sam Samores überdimensionales Bett, auf dem wir uns völlig ermattet niederlegen und das fast hypnotische Video anschauen können, das uns ohne Handlungsfaden durch Assoziationen und Traumsequenzen leitet, dabei ein Lebensgefühl vermittelnd, das nicht von Welterklärungsversuchen, sondern von Wünschen und Sehnsüchten getragen ist. Außen am Gebäude leuchtet dann am Abend der Schriftzug "I Believe in Angels" von Yang Jiechang – ist dies der Ausweg aus der Moderne?
Anmerkungen, Links:
Sabine B. Vogel
Kunstkritikerin; Lehrbeauftragte an der Universität für Angewandte Kunst, Wien, Österreich.
10. Istanbul Biennale
8. September - 4. November 2007
Thema:
Not only possible, but also necessary: Optimism in the Age of Global War
(Nicht nur möglich, sondern auch nötig: Optimismus im Zeitalter des globalen Krieges)
Kurator: Hou Hanru
Über 100 Künstler und Gruppen aus 35 Ländern beteiligen sich mit mehr als 150 Projekten.