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Essay über die Installation von Mounir Fatmi (Marokko), gezeigt in der Ausstellung \"Nafas\".
Von Evelyne Toussaint | Mai 2006Durchtrennen
500 Meter Stille ist eine Installation, die von Un-Kommunikation handelt. Die zerfetzten weißen Antennenkabel – vivisezierte, nutzlose Gebilde – machen jede Form der Übertragung unmöglich und unterbrechen den stetigen Datenfluss. Und doch wird uns genau hier die gewaltige Macht von Worten und Bildern, von allgegenwärtigen Fernseh- und Computerbildschirmen, von hertzschen Netzwerken und Glasfasern ins Gedächtnis gerufen.
Viele Arbeiten von Jean Baudrillard bis Marie-Josée Mondzain, Susan Sontag, Edward Said oder Eric Michaud werfen ein Schlaglicht auf die äußerst selektive und manipulative Funktion von Bildern in Propaganda, Kunst und Werbung sowie die skandalöse Banalisierung und schamlose Virtualisierung von Gewalt und Tod in den Medien. Ohne Unterlass werden wir durch vielfältig redigierte und verfälschte Informationen getäuscht. Einige dieser Manipulationen werden offensichtlich aus politischem, wirtschaftlichem oder kulturellem Zynismus mit voller Absicht vorgenommen, während andere einfach aus der Zerstreutheit oder Inkompetenz der Fernsehverantwortlichen entstehen. Mounir Fatmi bemerkt hierzu: Dieser "Fluss (...) konditioniert uns und beeinflusst unser Urteilsvermögen und unsere Meinungen". [1] In 500 Meter Stille bezieht sich der Künstler mit Hilfe eines Wandbilds und eines Soundtracks auf Iwan Pawlows Experimente zu bedingten Reflexen. Wünsche und Sehnsüchte, die unsere Illusion von Freiheit nähren, werden uns in Wirklichkeit vorwiegend suggeriert wie einem pawlowschen Hund. Unsere Gedanken werden weitgehend von einem ganzen System induziert, das sie generiert und dabei unsere Psyche verwirrt. Am Ende glauben wir an unsere eigene Fähigkeit, auszuwählen und frei zu entscheiden. Zum Zweck der Distanzierung, Dekonstruktion und Explikation schlägt Mounir Fatmi uns hier vor, abzuschalten. So wird 500 Meter Stille eine Schleusenkammer für eine heilsame Entkonditionierung, wodurch wir erkennen, dass jedes Bild ein "Code" ist, der "entschlüsselt werden" muss. [2]
Verdeutlichen
Die eigentliche Bedrohung von Intelligenz und Demokratie liegt nicht im ununterbrochenen Informationsfluss und in der gegenwärtigen Übersättigung durch Bilder und Worte, die mittels verschiedener Netzwerke alle untereinander verbunden sind; das Bedrohliche ist vielmehr, dass diese Furcht erregende Mutation der Kommunikationssysteme der demagogischen und populistischen Vermassung von Wissen und Kultur den Vorzug gibt. Daher müssen wir uns, um die Verwirrungen und Missverständnisse auszuräumen, einer kritischen Analyse zuwenden: den Diskurs hinterfragen, die Bilder deuten, Konditionierungsideologien zutage fördern und zu einer Archäologie des Wissens und einer Epistemologie der Gewissheiten übergehen. Daher müssen wir unbedingt versuchen, herauszufinden, "was in dem, was man uns zeigt, versteckt ist, das Wesentliche, das vom Detail verdeckt wird, das große Ganze, das hinter der Nahaufnahme verborgen liegt": der Verlust von Arbeitsplätzen, der mit guten Börsennotierungen einhergeht; die versteckten Folgekosten der Atomkraft; die Rentabilität von Waffen-, Drogen- und Organhandel; die Lobbyisten, die auf allen Gebieten die Fäden ziehen....
Hier erweist sich die Installation als Werkzeug, das besonders gut an die Gewohnheiten unserer Zeit angepasst ist, die von einem Wunsch nach Explikation getragen sind, wie Peter Sloterdijk unterstreicht. Er weist nach, dass sich diese Form der Kunst als das wirkungsvollste Instrument in der Präsentation zeitgenössischer Kunst erweist, indem es die Ausstellungssituation selbst der Beobachtung preisgibt. [3] In seinen Arbeiten – Videos, Wandbildern, Skulpturen und Installationen – zielt Mounir Fatmi darauf ab, uns den ideologischen, wirtschaftlichen, politischen, sexuellen und religiösen Unterbau für Gewalt, Rassismus und Fundamentalismus zu zeigen. Bereits in seinen Frühwerken besteht er auf der Notwendigkeit, zwischen den Bildern und Zeilen zu lesen, jeden Diskurs über die Wahrheit, alle Revolutionen, jede militante Gnosis sowie die Wut der Welt und die Versuche ihrer Beschwichtigung zu hinterfragen.
Miteinander reden
Eines Tages muss alles wieder miteinander verbunden werden. Wie Georges Didi-Huberman über das Medium Bild schreibt, ist dieser Informationsfluss "sowohl Symptom (Ausfall des Wissens) als auch Erkenntnis (die Störung des Chaos)".[4] Obwohl unzulänglich, parteiisch und voreingenommen, ist es doch auch Überlieferung, Zeugnis und Erinnerung an die Auslöschung der Realität durch Zensur, an die Verschleierung des Machtmissbrauchs durch die Fotografen selbst, an Negationismus, an die Stille der Gewalt, die uns zwingt, nichts zu sagen. Um also nicht noch entfremdender als sogar Sprache zu sein, muss die Dauer der Stille begrenzt sein, sagen wir auf 500 Meter....
Dann müssen wir wieder diese zahllosen Zeichen empfangen, die schlechtesten und die besten, die vertrauenswürdigen und die unechten, den Manipulator und den Manipulierten, das Déjà-vu und das Ereignis, bis der Moment kritischer Analyse und symbiotischen Widerstands, der Explikation all dieser Verwirrung und ihrer Ursachen, bis die Zeit der Vernunft gekommen ist. Zu diesem Zweck müssen wir Zonen der Demokratie schaffen, Orte und Zeiten für Worte und Austausch, wo es möglich ist, gefahrlos zu diskutieren. Um noch einmal Sloterdijk zu zitieren: Wir müssen akzeptieren, dass das Leben "multifunktional, multiperspektivisch und heterarchisch" geordnet werden kann, in einem nicht-metaphysischen, nicht-holistischen Sinn. [5] In seinem Manifest fordert Mounir Fatmi "transparente Fahnen", um so todbringenden Ideologien ein Ende zu machen, um einander zu verstehen, sich von Konditionierung und Obskurantismus zu lösen, um in einem Pluralismus von Gedanken, Kunst und Religionen zusammenzuleben. Dann wird es möglich sein, "wahres Sehen, Verstehen und Handeln zu erleben". 500 Meter Stille ist ein wunderbarer Raum für ein Gespräch.
Widerstehen
In Wirklichkeit ist es eine Sache des Aussortierens ultraliberaler Zusammenhänge, des ununterbrochenen Flusses des Vergnügens, um letztendlich auch zu verstehen, welche Wünsche und Sehnsüchte tatsächlich aus der Entwicklung des Selbst entstehen, wobei Individuation die Begegnung mit anderen ermöglicht. Um es mit den Worten Stig Dagermans zu sagen: Das einzige wahre Wunder ist das der Befreiung, weil man "einfach plötzlich entdeckt, dass niemand – keine Macht und kein anderer Mensch – das Recht hat, etwas von mir zu verlangen, das meinen Lebenswillen verkümmern lässt".[6] 500 Meter Stille ist ein wunderbarer Raum für einen inneren Monolog.
Anmerkungen:
Evelyne Toussaint
Dozentin für zeitgenössische Kunstgeschichte an der Université de Pau et des Pays de l’Adour, Frankreich.
500 Meter Stille. 2004 - 2005
Antennenkabel, Böcke, weißer Stoff, Wandbild, Soundtrack