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Zwei neue Filme der Künstlerin iranischer Herkunft in einer Ausstellung in Berlin und Salzburg.
Von Britta Schmitz | Okt 2005Nationalität, Religion, Ethnizität, Geschlecht sind einige der "kollektiven Identitäten", die die kunst-, kultur- und sozialwissenschaftliche Forschung in den letzten Dekaden verstärkt in den Blick genommen hat. In Ausstellungen und Symposien hat dieser Begriff durchaus diskursive Konjunktur, auch wenn er bisweilen heftigen Widerspruch hervorruft, weil er als analytische Kategorie unbrauchbar sei. [1] Kwame Anthony Appiah ist von der Kritik am Identitätsbegriff nicht zu beeindrucken, konstatiert in seinem neuesten Buch "Identität steht im Zentrum des menschlichen Daseins. Sie ist eine wesentliche Quelle unserer Werte" und folgert, Individualität setze Sozialität voraus. Den Autor bewegt die Frage, wie zwischen einem Liberalismus und multikulturalistischen Visionen vermittelt werden kann. Er plädiert für einen "verwurzelten Kosmopolitismus", der sich nach Appiahs Definition nicht über die Vielfalt menschlicher Identitäten hinwegsetzt. Das Individuum leidet nicht an der Differenz, sondern geht frei und kreativ damit um. Appiah vermag auf beeindruckende Weise darzulegen, wie mit vielen Loyalitäten umgegangen werden kann und dass die Welt schwerlich in "den Westen" und "den Rest", in "Einheimische" und "Kosmopoliten", eingeteilt werden kann. [2]
Shirin Neshat, die aus der Perspektive zweier sehr voneinander abweichender kultureller Hintergründe arbeitet, fokussiert in ihren Projekten den visuellen Diskurs auf gesellschaftliche Entwicklungen im zeitgenössischen Islam bzw. konkret auf iranische Verhältnisse. Obwohl sie die kulturspezifischen Phänomene explizit herausarbeitet, gelingt es ihr sehr subtil, den Tenor einer universelleren Sprache anzustimmen und nicht nur ein differenziertes Bild über ihr Herkunftsland zu vermitteln, sondern auch einen aufschlussreichen Einblick in die Verfasstheit der "westlichen" Wahrnehmung anzustoßen. Die Frage nach der Herangehensweise in ihrer Arbeit beantwortet sie folgendermaßen: "Es ist für mich unabdingbar, ein Thema von innen heraus darzustellen, um etwas Reines zu schaffen und nicht dem Druck von Parallelen zwischen zwei Kulturen zu erliegen." [3] Hamid Dabashi stellt in seinem, in diesem Katalog veröffentlichten Aufsatz heraus, dass die Arbeiten "ortsspezifisch" gelesen werden und Shirin Neshat nicht nur ein bestimmtes Publikum erreicht. [4]
Shirin Neshat hat als 17-Jährige den Iran verlassen, um in den USA Kunst zu studieren. Unter dem Schah Reza Pahlawi von Persien war das etwas relativ Normales, Kinder in den "Westen" zur Ausbildung zu schicken, sofern man es sich leisten konnte. Erst Jahre später, 1990, kehrte sie für einen ersten Besuch in den Iran zurück. Es war eine Rückkehr für eine kurze Zeit in ein Land, das sie kaum wiedererkannte. Der erste Golfkrieg Iran/Irak hatte acht Jahre gedauert und war gerade zu Ende gegangen. Er hatte die männliche Bevölkerung erheblich dezimiert, Frauen im Tschador oder in einer Burka beherrschten das Stadtbild, große Märtyrerbilder waren unübersehbar an allen Hauswänden, die islamische Revolution hatte das Land total verändert, alle Angelegenheiten des Volkes wurden durch die islamistische Führung geregelt, selbst bis zu der Frage, was man trinken, essen oder anziehen solle. Für westliche Medien war das Land zu dieser Zeit kaum zugänglich und wurde nur mit Fundamentalismus, Fanatismus und Terrorismus in Verbindung gebracht.
Auch für Shirin Neshat brachte die Berührung mit diesem einst als Heimat bezeichneten Land eine entscheidende Wendung, und das Verhältnis zu ihrem jetzigen Heimatland veränderte sich grundlegend. Unter diesen Eindrücken begann sie mit der schon ikonisch zu nennenden Fotoserie "Women of Allah" (1993-1997), die sofort höchst erfolgreich in der westlichen Kunstszene ausgestellt wurde und viel Beachtung fand, denn Shirin Neshat hatte gleich mehrere Ebenen einer Rezeption berührt bzw. angestoßen. Diskussionen über die Dekolonialisierung globaler Kultur und damit einhergehend eine Hinterfragung der Bilder vom Orient wurden seit den frühen neunziger Jahren geführt, sowohl von Künstlern als auch von Kuratoren, und Shirin Neshat hat die damit einhergehende (Re-)Politisierung des Bildes mit einer derartigen Wucht etabliert, dass das Echo dieser frühen Arbeiten noch im Werk vieler nachgekommener Künstler wahrzunehmen ist. [5] Indem Neshat sich auf diesen Fotos selbst im Tschador mit Schusswaffen ablichtet und die unbedeckten Stellen mit zeitgenössischer Lyrik in Farsi überschreibt, verknüpft sie unterschiedliche Ebenen. Da ist zum einen die Nahtstelle zwischen der privaten und öffentlichen Sphäre, öffentlicher Raum wird als männlicher Raum, privater Raum als weiblicher Raum betrachtet. Als prominentes, wenngleich verkrustetes Symbol des Islam markiert der Tschador die Schnittstelle einer kulturellen Differenz und ist mithin Indiz einer interkulturellen Wahrnehmung bzw. Bilderproduktion, während die als Ornament zu lesende Schrift, die sich wie ein weiterer Schleier vor die Bilder legt, die Realitätsferne unterstreicht, wenn es um die Wahrnehmung von Konflikten oder Kultur im Mittleren Osten geht. "Es gibt hier ein eigenartiges Nebeneinander zwischen Weiblichkeit und Gewalt. Meine Bilder zeigen diese Frauen als 'militant' und 'bewaffnet' und doch als merkwürdig 'unschuldig' und 'spirituell'; sie begehen ein Verbrechen, weil sie Gott lieben, und diese Hingabe schließt Gewalt mit ein." [6] Die Kämpferin mit Tschador und Kalaschnikoff ist zugleich eine Verkörperung der antiwestlichen Aggressivität des politischen Islam.
Die Fotos und die in den folgenden Jahren entstehenden Film- und Videoarbeiten sind auch ein Verweis auf die komplexe Paradoxie einer Gesellschaft, die auf traditionellen Werten und einer archaischen Religion gegründet ist und eine große Weltkultur repräsentiert, sich aber der Moderne nicht entziehen kann und die Auflösung der Konturen hinter der Kleiderordnung wahrnehmen muss.
Seit 1997 erzählt Shirin Neshat mit ihren Schwarzweißfilmen eindringliche Geschichten, die sich dem Gedächtnis sofort einschreiben. Ihre Filme und szenischen Videos sind allesamt ausgezeichnete Beispiele für die Vermittlung gesellschaftspolitischer Inhalte auf einer visuellen Ebene, die ohne Worte auskommt und durch den suggestiven Sound zu einer narrativen Verschränkung gelangt. Die Musik unterstreicht das Universelle der Werke und überschreitet alle kulturellen Grenzen. Durch die Doppelprojektionen sind die meisten Arbeiten formal wie auch thematisch durch einen starken Dualismus geprägt, und es wird eine fiktive Kommunikation evoziert, die doch gerade durch die Geschlechtertrennung im Iran schmerzhaft vermisst wird. [7]
Die in der Ausstellung gezeigte Doppelprojektion "Rapture" von 1999 bezieht ihre Spannung aus der Polarität und Energie zwischen Männern und Frauen und einer engen filmischen Verzahnung nicht eindeutiger Handlungen. Wie in anderen Arbeiten auch, setzt sie hier Massenszenen ein und verweist damit auf Siegfried Kracauers 1927 geprägten Begriff "Ornament der Masse", mit dem die Einzelindividuen (im Kapitalismus) nur als ornamentales Gesamtbild erscheinen und das menschliche Leben selbst allmählich die Züge jenes Ornaments annimmt [8], unterstrichen durch den einheitlich schwarzen Tschador der Frauen und die Uniformität der Männer mit weißem Hemd und dunkler Hose. Die restriktiven Gesetze im Iran ließen in den achtziger Jahren wenig individuellen Spielraum, und jede Abweichung in Kleidung und Verhalten wurde zur Regimekritik. Die politische und religiös-moralische Dimension, die die islamistische Regierung ausschließlich der weiblichen Garderobe verlieh, steigerte ihre Bedeutung weit über den üblichen Symbolgehalt von Bekleidung hinaus. Sie wurde zu einer Zeichensprache mit politischer Aussagekraft, und vor diesem Hintergrund des vorgeschriebenen Kodex trafen die Iraner mit ihren ebenso subtilen wie demonstrativen Abweichungen Aussagen über ihre Meinung zum Regime, ihre soziale Zugehörigkeit und ihre Haltung in Geschlechterfragen. Shirin Neshat deutet dies mit "Rapture" verschlüsselt an. Gegen Ende des Films ist das ornamentale Gesamtbild der Frauen in Auflösung begriffen, sie streben einzeln dem offenen Meer zu und besteigen gemeinsam ein Boot um wegzufahren. Die jüngsten Arbeiten "Mahdokht" (2004) und "Zarin" (2005) sind zwei eigenständige Sequenzen des geplanten fünfteiligen Spielfilms "Women without Men". Die gleichnamige Novelle von Schahrnusch Parsipur erschien 1989 in Teheran und wurde sogleich verboten. Die Schriftstellerin lebt heute im amerikanischen Exil. [9] Das Buch besteht aus mehreren metaphorisch verknüpften Kurzgeschichten über das Leben von fünf unterschiedlichen Frauen, die unter ihren Lebenssituationen leiden und weglaufen, um sich schließlich in einem Garten wiederzufinden. Hier wollen sie eine eigene neue Gesellschaft formen.
In einer feministisch-mythologischen Terminologie beschreibt Schahrnusch Parsipur den kulturellen und religiös-gesellschaftlichen Druck, der oft keinen anderen Ausweg zulässt, als verrückt zu werden oder Selbstmord zu begehen. Das Buch war für die Revolutionswächter und -Verwalter unter Khomeini eine ungeheure Provokation.
Mit der Wahl des Präsidenten Chatami im Jahr 1997 hat sich das Leben im Iran geändert, auch die Regeln des Tschadortragens werden immer nachlässiger beachtet. [10] Mit jedem Millimeter, den die Mäntel kürzer und enger wurden, haben die Iranerinnen Gestaltungsraum gewonnen. Farbe beherrscht das Stadtbild, das aufreizende Spiel des Verbergens und Zeigens hat große Konjunktur, und es gibt inzwischen eine Modeindustrie, die sich ausschließlich dem Kopftuch und dem Tschador widmet. Satellitenfernsehen und Internet gehören in den Großstädten zur Grundausstattung, ohne als Zeichen einer "Verwestlichung" zu gelten, viel eher wird ernsthaft die Frage nach einer eigenen, nichtwestlichen Identität gestellt.
Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York ist auch in den USA vieles anders geworden. Der ausgerufene "Kampf der Kulturen" hat das Land der individuellen Freiheit und der Kultur der Kritikfähigkeit verändert. Shirin Neshat reagiert auf diese Veränderungen seismografisch. Als Künstlerin mit transnationalem Bildungs- und Bewusstseinsstand, die sich in westlichen Diskursen positioniert hat und eine wichtige Vermittlungsrolle zur iranischen bzw. islamischen Kultur eingenommen hat, bemerkt sie überdeutlich die Verwundbarkeiten einer Gesellschaft.
In gewisser Weise sind "Mahdokht" und "Zarin" fremd und neu in ihrem Œuvre, denn Shirin Neshat erfüllt hier nicht die "orientalische" Erwartung. Beide Filme sind ausschließlich in Farbe produziert, "Zarin" ist wie ein Spielfilm angelegt mit Dialogszenen. Die von Shirin Neshat oft zitierten Dualismen von Schwarz-Weiß, Männlich-Weiblich sind aufgegeben zugunsten eines eher magisch-realistischen Stils.
Die Kamera folgt bei "Mahdokht" aus einer grauweißen Umgebung einem klaren, lebendigen Bachlauf entlang, durch die Öffnung einer Lehmmauer in einen grünen, prächtigen Garten. Zu Beginn und noch einmal am Ende liegt sie wie Ophelia im weißen Gewand tot im seichten ruhigen Wasser, wie schlafend. Nebelschwaden legen sich wie ein Schleier darüber. Kinder und die junge Mahdokht spielen in fruchtbarer, paradiesischer Landschaft, und Mahdokht ist erfüllt von dem Gedanken, aus gelber Wolle unendlich viele Kinderkleider zu stricken. Sie wünscht sich tausend Paar Hände, um ihr Werk zu vollenden. Sie verarbeitet die sie mitten in der Landschaft umgebenden gelben Wollfäden geradezu verrückt schnell, eine Kinderschar tollt umher. "Mahdokht" ist in fast surreal zu nennender Vieldeutigkeit angelegt, verweist aber wohl auf eine unfruchtbare Zivilisation, die eine Wiederbelebung sucht - hier im Bild einer Frau (Mahdokht), die von Fruchtbarkeit besessen ist. Mahdokht, die Mutter der Zivilisation, Mutter Erde und die Lebensenergie des Gartens, hat die falschen Fäden zusammengefügt - und hat sich in einem hoffnungslosen Zustand aus dem Leben verabschiedet. Flechten und Samen sind übrig geblieben, um sich über die Welt zu verstreuen.
In der Novelle von Scharnusch Parsipur wünscht sich Mahdokht, in einen Baum verwandelt zu werden. "Sie wollte am Flussufer wachsen mit Blättern ... sie würde ihre neuen Blätter im Wind wehen lassen, in einem Garten voller Mahdokhts ... Ihr würden abertausende Äste wachsen... Sie wollte unbedingt, und es ist immer die Sehnsucht, die einen traurig macht" [11]
Der zentrale Ort der Novelle und des Films ist der Garten, denn in der islamischen Welt ist das Gartenmotiv von herausragender Bedeutung. Der Islam und Iran sind berühmt für seine Gärten, die einen sehr starken Kontrast zur scheinbaren Unendlichkeit der Wüste bilden und einen Abglanz des Paradiesgartens darstellen. Die Idee, dass ein Mensch in einem Garten ein Baum werden kann, ist in der iranischen Mythologie eine verbreitete Metapher, die für die Verwurzelung des Menschen in der Gemeinschaft steht. Die Verwandlung einer Frau in einen Baum würde es ihr erlauben, eine neue Gesellschaft zu gründen, eine weibliche Gesellschaft, und in einer Gemeinschaft eingebunden zu sein. Sie wäre nicht zur Passivität und in den privaten, abgeschirmten Bereich der Gesellschaft gedrängt, sondern diejenige, die aktiv werden könnte, um die Gestaltung des eigenen Lebensraums selbst zu bestimmen.
Zarin ist eine junge Frau, die seit ihrer Kindheit als Prostituierte arbeitet und plötzlich alle Kunden ohne Gesicht wahrnimmt. Aus Angst, verrückt zu sein und für ihre Sünden bestraft zu werden, entflieht sie dem Bordell, um sich im Hammam rein zu waschen. Auch hier wird sie nicht erlöst und flieht, bedeckt mit ihrem hellen Tschador, weiter durch die Stadt in die Moschee, wo gerade die Aschura-Rituale stattfinden. [12] Aber das Beten hilft ihr auch nicht und sie rennt hinaus aus der Stadt, in eine ungewisse Zukunft.
Die Darstellung von Zarin ist angesichts der beinahe schizophrenen Situation, in der sie sich als (Kinder-)Prostituierte befindet und viele Kunden bedient, in einem Land, in dem das Konzept des islamistischen Staates die Frauen unter dem Tschador verborgen hält, die ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen, die in Mimik, Gestik und Verhalten strengen Regeln einer Auslegung des Korans gehorchen müssen, ein höchst tabuisiertes Thema.
Der Zyklus "Women without Men" entsteht, wie fast alle ihre Arbeiten, in enger Zusammenarbeit mit iranischen Freunden. Der Blick zurück ist nicht immer einfach. Als Exilant oder Immigrant trägt jeder einen enormen Verlust in sich, und die Erinnerungen haben ein gewisses Eigenleben. Diejenigen, die ihre kulturelle Heimat verlassen haben, tragen sie in sich und haben eine sehr eigene Perspektive auch auf das Land, in dem sie jetzt leben, und weil sie mehrere Identitäten in sich tragen, können sie besondere Sichtweisen einbringen. Shirin Neshat hat entscheidend dazu beigetragen, eine Atmosphäre veränderter Spielregeln der Identitäten zu schaffen, weil sie immer eine feine Balance gehalten hat zwischen der Treue und dem Bekenntnis zu den Wurzeln ihrer Arbeit, ohne je ethnographisch zu werden. Sie hat mit jeder neuen Arbeit eine andere adäquate Sprache entwickelt, die in der ganzen Welt verstanden wird, weil sie zutiefst humane Themen aufgreift und universelle Werte transportiert. Mit dem Zweifel an einer Zivilisation, wie sie in "Mahdokht" angedeutet ist, greift Neshat eine globale, höchst aktuelle Diskussion auf, die sich nicht in "West" und "Ost" teilen lässt.
Anmerkungen:
Britta Schmitz
Leitende Kuratorin der Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof, Berlin. Arbeitet seit 1983 für die Nationalgalerie mit dem Schwerpunkt Kunst nach 1945.
1. Oktober - 4. Dezember 2005