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Umfangreiches Fotoprojekt über die Pilgerfahrt nach Mekka. Text der Künstlerin und 24 Fotos.
Okt 2005Es ist unmöglich, die Haddsch [1] in einem Text oder visuell zu erfassen, denn sie übersteigt jedwede Beschreibung. Kein Buch und keine Fotografie kann der Haddsch jemals gerecht werden. Selbst diejenigen, die sie mitmachen, können die Haddsch niemals ganz begreifen.
Vom ersten Tag der Haddsch an wird man mitgerissen von ihrer Bewegung und ihrer schieren Größe, und man begibt sich auf eine andere Bewusstseinsebene. Indem man ein Ritual nach dem anderen absolviert, entdeckt man langsam den Rhythmus des Universums.
Selbst wenn es sich bei der Haddsch um ein kollektives Ereignis handelt, ist es doch auch ein sehr persönliches, denn jeder von uns findet die Haddsch, nach der er oder sie gesucht hat. Es ist nicht ungewöhnlich, dass man bei der Haddsch auf Taschendiebe und Leute mit schlechtem Betragen stößt. Man kann auch leicht jene finden, die nur gekommen sind, um eine religiöse Pflicht zu erfüllen, ohne dass sich irgendetwas Wesentliches in ihrem Leben oder ihrem Verhalten ändern würde. Wie dem auch sei, für die meisten ist es ein Moment des Wandels und der Wiedergeburt, und es ist schwer, die Haddsch zu verlassen, ohne dass sie die eigene Persönlichkeit für immer verändert hätte.
Die Haddsch ist ein hervorragendes Labor des menschlichen Verhaltens und Denkens. Sie verlangt nur von denjenigen, die an ihr teilnehmen eine vereinte physische Aktion, aber die Ergebnisse sind sehr unterschiedlich. Ich habe bei der Haddsch das Beste und das Schlimmste gesehen. Ich sah den alten Mann, der sein Leben lang einen Cent nach dem anderen gespart hat, nur um zur Haddsch reisen zu können. Ich sah aber auch die Diebe, die zur Haddsch kommen, um hier ihre Jahreseinnahmen zu machen. Ich beobachtete, wie Soldaten stundenlang ununterbrochen in der sengenden Sonne standen, nur im Schatten eines kleinen Schirms, während sie den Staub und die Abgase tausender Busse einatmeten und in diesem menschlichen Ozean dennoch versuchten, den Schwachen, den Verlorenen und den Ermüdeten zu helfen. Tagelang war ich mit Muttawifs zusammen, die schlaflose Nächte verbringen, um die Durchführung der Haddsch zu ermöglichen. Die Muttawifs sind die traditionellen Organisatoren der Haddsch. Das beruht auf einer Tradition, die es schon vor dem Islam gab.
Straßenkehrer, Ärzte, Soldaten und viele andere sind die stillen Helden, die jedes Jahr aufs Neue vergessen werden und als selbstverständlich gelten. Da die Haddsch ein religiöses Ereignis ist, neigt man zu der Annahme, dass sie deshalb auf wundersame Weise von Gott organisiert sei. In einem gewissen Sinne ist das wohl auch so, denn die Haddsch ist etwas, das über alle Anstrengungen, Intelligenz oder Technologie hinausgeht. Als ich die sich überall ausbreitende Masse an Menschen sah, wurde mir bewusst, dass es sich tatsächlich um ein wundersames Ereignis jenseits der kollektiven Kontrolle handelt.
Viele der Muttawifs, mit denen ich sprach, erzählten mir, dass sie mit der Vorbereitung der nächsten Haddsch in dem Moment beginnen, in dem die gegenwärtige zu Ende geht, die Haddsch letztendlich jedoch jedwede organisatorische Kraft übersteigt. Man stelle sich die größte Armee der Welt vor, mit einer Stärke von über zwei Millionen, die mehr als zweihundert Sprachen und Dialekte sprechen, unterschiedlicher sozialer Herkunft sind und in einer kleinen Stadt von gerade mal einigen hundertausend Einwohnern zusammenkommen. Diese Armee muss mit Nahrung, Unterkunft, hygienischer und Gesundheitsfürsorge versorgt werden, einschließlich allem, was dafür benötigt wird und sonst noch dazugehört. Allein schon, dass diese Armee ihr Lager in nur vier Tagen mehrmals woanders aufschlagen muss, ist unglaublich.
Mir wurde erzählt, die Regierung hätte weltweit anerkannte Experten für Verkehr verpflichtet, ihr zu helfen, den Zug der Pilger von Arafat nach Muzdalifa (ca. fünfzehn Kilometer), der in sechs Stunden geschafft sein muss, zu organisieren. Die Experten haben alle Möglichkeiten studiert und zu dem Ergebnis gelangt, dass die Bewegung aller Pilger von Arafat nach Muzdalifa sechs Tage dauern würde. Es war ihnen unmöglich klar zu machen, dass es sich bei der vorgeschriebenen Zeit um eine religiöse Verpflichtung handelt, die dafür vorgesehene Zeitspanne demzufolge nicht überschritten werden darf.
Ein anderer Aspekt der Haddsch, der meine Aufmerksamkeit anzog, ist der Markt von Arafat. Viele Pilger finanzieren ihre Reise nach Mekka, indem sie aus ihren Ländern heimische Produkte mitbringen. Man kann in Arafat die besten Pistazzien aus dem Iran finden, soweit es gerade deren Jahreszeit ist, oder Papageien aus Afrika oder Hightech-Feldstecher aus Zentralasien. Bei dieser Gelegenheit kann man Produkte kaufen, die es in Saudi-Arabien normalerweise nicht gibt.
Ich bin eine der wenigen Frauen, die über die Haddsch so umfassend berichtet haben, und ich werde Gott für immer dafür danken, dass er mir diese Chance gab. Es ist eine Erfahrung, die meine Auffassung von der Welt und von mir selbst verändert hat. Ich konnte tiefe Einblicke in die menschliche Psyche und Rassenunterschiede gewinnen. Das hat mir erlaubt, meine physischen und mentalen Fähigkeiten auszuloten. Es gibt nichts anstrengenderes als die Haddsch, es sei denn, man befindet sich in einer Kriegszone. Man kann unmöglich im Voraus wissen, was einen von all den Menschen, die man fotografiert oder die bei der Haddsch arbeiten, erwartet. Ich hatte mit jeder Art von menschlichem Verhalten zu tun, sei es religiös oder traditionell. Einige kamen zu mir und baten mich, sie zu fotografieren, andere hingegen schrien mich an, dass das gegen unsere Religion sei, aber die meisten ignorierten mich einfach und sorgten sich mehr um den Zustand ihrer Seele, als um irgendeine fotografierende Frau.
Anmerkung:
Haddsch. 2000 - 2004
Fotoserie