Für eine optimale Ansicht unserer Website drehen Sie Ihr Tablet bitte horizontal.
Geschichte Brasiliens in einem Gemälde des Autodidakten Hélio Melo, eines Kautschuksammlers vom Amazonas.
Von José Roca | Aug 2008In Anbetracht der Tatsache, dass ich Autodidakt bin, können Sie mich einen Maler des Urwaldes nennen, denn nur jemand, der darin gelebt hat, kann die Geheimnisse der Natur durch unsere indianischen Brüder – die Besitzer des Urwaldes – entdecken.
Hélio Melo [1]
Raum
In der Arbeit Estrada da Floresta (Straße des Waldes) des Künstlers Hélio Melo (1926–2001, aus dem brasilianischen Bundesstaat Acre) nähert sich ein Gummizapfer, seringueiro [2] auf Portugiesisch, einem riesigen Kautschukbaum, der in der Natur eine Höhe von dreißig und einen Umfang von fast drei Metern erreichen kann. [3] Das Bild ist daher keine übertriebene Darstellung, es handelt sich hier nicht um "künstlerische Freiheit": Die Realität ist stärker als die Einbildungskraft. Im Urwald, dort, wo das westliche Auge nur ein undurchdringliches, grünes Gewirr aus Vegetation wahrnimmt, stellt sich der Gummizapfer einen Weg vor, seinen Weg: eine mentale Karte seines täglichen Gangs, um zu überleben. Sieht der Gummizapfer den Wald, sieht er jeden Baum einzeln, als sei er das Mitglied einer riesigen Familie. [4] In Hélios Bild stellt jeder Ast einen Weg durch den Wald dar, jeder Zweig einen Baum zum anzapfen, jeder runde Knoten einen Punkt, an dem man sich von der Strapaze, Latex zu sammeln, ausruhen kann.
Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Kautschuk zu einem lebenswichtigen Rohstoff für die industrielle Entwicklung Europas und der Vereinigten Staaten geworden. Es war ein wichtiger Bestandteil von Fahrzeugen und den meisten Maschinen, etwa für Ventile, Dichtungen und Riemen. Man muss sich daran erinnern, dass Ford bis 1927 15 Millionen Model T-Automobile produziert hatte, das heißt beinahe eine Million pro Jahr. Untersuchungen haben ergeben, dass jedes Auto mehr als fünfzig Kilo Gummi für die verschiedensten Teile benötigt – man ahnt also, wie groß die Nachfrage nach Kautschuk im ersten Viertel des vorigen Jahrtausends war. [5] Während des Zweiten Weltkriegs, als Japan die tropischen Regionen Südostasiens mit ihren ausgedehnten Kautschukbaumplantagen kontrollierte, wurde das amerikanische Kautschuk erneut zu einem strategischen Produkt [6], und wieder wurde das brasilianische Amazonasgebiet als Quelle des Kautschukanbaus interessant. Es ist bestenfalls ironisch zu nennen, dass die Entwicklung der führenden Technologien jener Zeit wortwörtlich in den Händen der Menschen lag, die manuell arbeiteten und das kostbare Blut des wertvollen "Baums, der weint" zapften. [7] Das Kapital, mit seiner eigenen unerbittlichen Logik, wendete diese Praxis auf eine gesamte Gemeinschaft an, die – den geopolitischen Launen ausgeliefert – die Zyklen der Entwicklung und der Krise erlebte, nur wegen einer unbekannten, unkontrollierbaren ausländischen Instanz.
Hélios Baum ist daher nicht nur eine Landkarte, sondern auch eine Chronik. Aus dieser Baum-Reise kann man die Gründe der Tragödie, die durch die Ausbeutung des Kautschuks in dem Gebiet, das heute zu Brasilien, Bolivien, Peru und Kolumbien gehört, herauslesen. [8] Das Hauptproblem der Latexgewinnung in Amerika hängt mit einem biologischen Umstand zusammen. Die Bäume konnte nie kosteneffizient in industriellem Ausmaß kultiviert werden, denn in dichte Reihen gepflanzte sind sie für einen tödlichen Pilz anfällig. [9] Ironischerweise gelang es den Briten, riesige Kautschukbaumplantagen in Malaysia anzulegen – aus Samen, die in Brasilien gesammelt wurden. Dort gediehen sie, weil die Bäume in ihrem neuen Lebensraum vor ihren natürlichen Feinden geschützt waren. [10] Die fehlgeschlagenen Experimente Henry Fords im brasilianischen Urwald in den 1920ern [11] und diejenigen der Vereinigten Staaten in Panama und Costa Rica in den 1940ern zeigten, dass die traditionelle Methode, nämlich Kautschuk von wilden Bäumen zu gewinnen, die einzig mögliche war. Doch es bestand ein wesentlicher Unterschied der Effizienz und des Ertrags, die sich in einer markanten Preisdisparität für jedes produzierte Kilogramm niederschlagen sollte. Während in den Territorien unter der Kontrolle der englischen Krone ein Mann mehr als 400 Bäume am Tag anzapfen konnte, mit einem jährlichen Gewinn von fast 18 Tonnen Latex, musste bei den brasilianischen Kautschukbäumen ein Mann sich durch ein Dickicht von mehreren hundert Metern Urwald von einem Baum zum anderen vorarbeiten, Parasiten, wilden Tieren und den anderen Gefahren des Urwalds trotzend, um lediglich ein Fünftel dieser Menge zu produzieren. [12] Außerdem bestand während des Höhepunkts des Gummibooms im Amazonas ein immenser Druck, absurd hohe Erträge einbringen zu müssen – in Anbetracht der Arbeitsbedingungen und der körperlichen Strafe, die dem Arbeiter und seiner Familie im anderen Falle drohte. [13] Die Schwierigkeiten der Gewinnung und ebenso des Kautschuktransports aus dem Herzen des Urwalds zu den Häfen und weiter zum Endkunden, bedeuteten wesentlich höhere Kosten, mehr als das Fünffache der Plantagenproduktion. [14]
Da die klassische kapitalistische Logik (Industrialisierung des Prozesses) hier nicht funktionierte – aufgrund der Beschaffenheit des Baums –, bestand der einzige Weg, das Geschäft wettbewerbsfähig zu machen, darin, den Preis an der Quelle, d. h. beim Gewinnungsprozess selbst, zu reduzieren. Da die Extraktionsmethoden nicht optimiert werden konnten – wie es traditionellerweise seit der industriellen Revolution geschah – was die einzig mögliche Strategie, billige Arbeitskräfte zu verwenden, und das bedeutete, auf eine präkapitalistische, feudale Logik zurückzugreifen: die Beschäftigung von Arbeitern unter unmenschlichen Bedingungen, die bald zu einer elenden Versklavung führte mit allen Praktiken der Sklaverei soweit es um die indigenen Völker ging. Dies war eine wirkliche Terrorherrschaft – zunächst fielen die Bauern aus dem Nordwesten Brasiliens, die vor den Dürren flüchteten und nun unter das Joch der Magnaten kamen, dieser zum Opfer. Die Verträge legten fest, dass jeder Arbeiter sämtliche Kosten für Transport, Unterkunft, Material und Werkzeug von seinem Lohn zahlen musste, was zu einer Spirale unbezahlbarer Darlehen führte, die, je länger sie arbeiteten, umso schwieriger zurückzuzahlen waren. Als auch dies nicht ausreichte, wurden ganze indigene Gemeinden von den "Besitzern des Urwalds" dazu gezwungen, für die Industrie zu arbeiten und wurden durch Krankheit und Auszehrung dezimiert. Es war für sie tragisch, dass sie sich auf den durch das Unternehmen verkörperten Weg des "Fortschritts und der Zivilisation" gerieten. [15]
Hélios Karte zeigt die Estradas de floresta (Straßen des Waldes), die mit den Worten Euclides da Cunhas wie die "Tentakeln einer riesigen Krake" sind, das "monströse Bild einer geplagten Gesellschaft, die sich in diesen Gegenden abmüht". [16] Das unberührte Eden des Dschungels wurde in eine Hölle verwandelt: "Der Gummizapfer ist in erster Linie eine einsame Figur, der, verloren in der Wildnis des Dschungels, sich in die Knechtschaft hinein arbeitet. Sein Tag am Gummibaum ähnelt einer Sisyphusarbeit – aufbrechen, ankommen, wieder aufbrechen entlang der Wege, die sich durch den Urwald schlängeln, Tag für Tag, in der immer währenden Tretmühle seiner mauerlosen Gefangenschaft." [17]
Zeit
In Anbetracht der Tatsache, dass der Gummizapfer eine strikte Routine bei seiner Arbeit einhalten musste, ist Hélio Melos Baum auch ein Instrument, das die Zeit misst: ein Arbeitstag bestehend aus einer ersten Schicht von 43 Bäumen – ihre Stämme einzuschneiden und kleine Blechbehältnisse, tigelinhas genannt, anzubringen, um die Latextropfen aufzufangen – gefolgt von einer zweiten Schicht von 50 Bäumen und einer dritten von 49. Nach einer kurzen Pause muss er zurück, um den Inhalt aller Blechbehältnisse in Eimer zu füllen. Der Arbeitstag endet mit dem Aushärten des Latex, indem es zu großen Kugeln, pelas, geformt wird. Nach Helios Gemälde zu urteilen, zapfte ein Gummizapfer an die 150 Bäume an einem Tag. Man weiß nicht genau, wie lang die dabei zurückgelegte Strecke war, Botaniker sagen, dass der Abstand der natürlich wachsenden Bäumen zwischen 100 und 150 Meter beträgt. Wir können daher folgern, dass ein Arbeiter fast 50 Kilometer täglich zurücklegte. Das ist etwa wie das heutige São Paulo zu durchqueren und dabei die Bäume anzuzapfen, dann das Produkt einzusammeln und das alles in der erdrückenden Hitze und Schwüle des Urwalds. [18]
Der Gummizapfer trägt ein Gewehr. Der Gummizapfer-Soldat ist Hélio selbst, ein pensionierter "Soldado da Borracha" (Gummisoldat). [19] Hélio ist einer von fast 60.000 jungen Brasilianern, die während der Zweiten Weltkriegs an einem Gummigewinnungsprogramm im Amazonas teilnahmen. Das Programm wurde von den Vereinigten Staaten zusammen mit der brasilianischen Regierung initiiert, um den Auswirkungen der japanischen Blockade der Gummiproduktion in Asien entgegenzuwirken. Der Batalha da Borracha (Kampf um Gummi) wurde geführt, um die Nachfrage der Kriegsindustrie zu befriedigen und war daher ein militärisches Unterfangen. Der Gummizapfer wurde gewissermaßen zum Soldaten; seine Aufgabe bestand darin, die spärliche Gummiproduktion von 16.000 Tonnen im Jahr 1941 auf jährlich 70.000 zu erhöhen. Für solch eine Produktionserhöhung waren mehr als 100.000 Arbeiter notwendig, was zu einer offensiven Propagandakampagne führte. Die hungernden Einwohner im Nordosten Brasiliens, die unter einer schier endlosen Dürreperiode litten, wurden mit tendenziösen Postern bombardiert, auf denen man Latex von den Bäumen hervorschießen sah, das dann mühelos in Eimern aufgefangen wurde. All dies im Grün des amazonischen Regenwaldes, als sei er ein mythisches El Dorado des Reichtums und der Fülle im Vergleich zum verdorrten Nordosten. Da sie wenig zu verlieren hatten, schrieben sich viele in das Programm ein. Doch als die monetären Anreize nicht ausreichten, ein menschliches Kontingent für ein Vorhaben dieses Ausmaßes aufzubringen, gingen die Organisatoren zu einer Zwangsrekrutierung über. Tausende von Armut geplagte junge Männer aus dem Nordosten beschlossen, diesen Weg zu nehmen, statt an der Front gegen die Achsenmächte zu kämpfen, was sich im Nachhinein als besser herausgestellt hätte: von den 20.000 Brasilianern, die in Europa kämpften, starben "nur" 454 – 60.000 "Gummisoldaten" starben zwischen 1942 und 1945 im Urwald des Amazonas, ohne dass ein einziger Schuss fiel. [20] Die Ausbeutung der "Gummisoldaten" war eine genaue Wiederholung der Arbeitsverhältnisse während des ersten Gummibooms, bekannt als das "sistema de aviamento" (Schulden-Tagelohn-System), bei dem der Arbeiter immer mehr Schulden hatte, als er produzierte. Da ihm rechtlich untersagt war, die Arbeit zu verlassen, ohne seine Schulden bezahlt zu haben, blieb die Reise dorthin eine Reise ohne Rückkehr und der Vertrag war ein Sklavenvertrag.
Die Kreisförmigkeit der Reise, die Hélios Gummibaum nahelegt, ist die Folge der kreisförmigen Zeit: die ewige Wiederkehr (der Tragödie). [21]
Kraft
Hélio Melos Bild ist wegen seiner Synthese und der Komplexität der Codes überraschend. Obwohl er Autodidakt ist, sollte Hélio nicht als naiver Künstler betrachtet werden. Seine Abbildungen des Urwalds, der Bräuche, Mythen und Charaktere, sind nicht unschuldig, und aufgrund der genauen Kenntnisse, die der Künstler von der physischen und sozialen Umgebung, die er zeigt, hat, sind sie voller versteckter Hinweise und Referenzen, die nur jemand, der den Urwald kennt, entschlüsseln kann. Sein Bild beruht auf direkter Erfahrung. Hélio, der auf einem Gummigut geboren wurde und aufwuchs, brachte sich das Malen mitten im Dschungel bei und entwickelte daher eine eigene Bildsprache. [22] Wie Eduardo Galeano unter Hinweis auf Evo Morales bestätigt: "Die einzige Sprache, die man glauben kann, ist die, die aus dem Bedürfnis ausgesprochen zu werden geboren wird." [23] Hélio entwickelte eine sehr eigene Sprache, in der Bäume zu Kühen und Kälbern werden, Esel und Schildkröten auf Bäumen klettern, Gummibäume Pfade werden und die Seringalistas – die Herren der Gummigüter – träge Maulesel sind, die von der bequemen Hängematte den Gummizapfer bei der Arbeit zusehen. Von den verschiedenen Büchern, die Hélio mit seinen beschränkten Mitteln veröffentlichte [24], konzentriert sich eines, das er kurz vor seinem Tod schrieb, auf die Notwendigkeit, den Wald zu retten. Er ist gefährdet durch die allgemeinen Folgen des kapitalistischen Fortschritts, die massive Ausbeutung von Holz, ausgedehnten Monokulturen und Schnellstraßen. Gummibäume werden gefällt, um Platz für die Viehzucht zu schaffen, und durch das Verschwinden der Bäume bleiben ganze Gemeinden ohne Existenzgrundlage. "Das Schicksal des Gummibaums war in der Tat traurig, da es nicht dokumentiert wurde. Ein wenig Wissen ist von den Älteren weiter gereicht worden. Einige Verstorbene haben Zeugnisse des Fällens und des Verschwindens der Kautschukbäume hinterlassen. Doch niemand hat versucht, die Geschichte des Baums zu schreiben. Es war ein glücklicher Fall, dass er 1880 entdeckt wurde, doch sein Ende ist im selben Maße traurig; die Gummizapfer hatten eine schmerzliche Geschichte. Die Milch des Kautschukbaumes wurde und wird durch die Milch der Kuh ersetzt." [25]
Hélios Kunst ist nicht die eines Erleuchteten, so wie viele Produktionen der sogenannten Art Brut üblicherweise beschrieben werden. Sie ist vielmehr der visuelle Ausdruck eines Inventars fast ausgestorbener Praktiken durch eine Person, die sich voll und ganz bewusst ist, was auf dem Spiel steht. Dennoch ist es eine "illuminierte" Kunst. Das spezielle Licht in Hélio Melos Arbeiten hat viele Menschen beeindruckt, wie etwa den Bildhauer Sergio Camargo, [26] der hierzu Folgendes schrieb: "Ist dies der Fall einer ästhetischen Symbiose mit dem Urwald, in dem er lebte? So würde man dieses Phänomen natürlich erklären, doch ohne dabei seinen Drang zu berücksichtigen, durch seine Kunst Dinge in den Griff zu bekommen, die mäandernden Lichtströme, die er in seiner Kunst einfangen konnte, die komplexe Immanenz des üppigen Lichts, die er merkwürdigerweise in Zeichnungen sensibler Natürlichkeit mit größerer Präzision definierte. Der lichtdurchlässige Sonnenaufgang, die Verstohlenheit des Sonnenuntergangs, das Lichtspiel in den Ästen und der ephemere Kontakt des Lichts mit der Rauheit der Baumstämme; die leuchtenden Lichtungen, die sanft schattierten Lauben, die kaum zu erkennenden Pfade und die weiten, offenen Räume, die mit dem Licht von Hélio Melos Pinsel gefüllt sind." [27]
Populäre Kunst als Ausdruck traditioneller Kultur beruht auf einer Kombination verschiedener Elemente: ein Handwerk, das von einer Generation zur nächsten weitergegeben wird, das Bedürfnis sich auszudrücken und die Notwendigkeit, sich zu ernähren. In der zeitgenössischen Kunst wird selten auf diese Faktoren hingewiesen. Populäre Kunst und die Kunst von "Außenseitern" – gemeint sind Beiträge, die im Allgemeinen eine starke Stimme und eine gewisse Dringlichkeit besitzen – stehen entweder in Kontrast zu oder ergänzen die gegenwärtige künstlerische Produktion. Im Kontext der 27. Bienal de São Paulo wird die Arbeit von Hélio Melo, zusammen mit anderen Arbeiten, Begriffe wie Territorium, Grenzen, ökologische Gerechtigkeit, Fair Trade usw. thematisieren. Einige dieser Arbeiten entstanden in Acre selbst, so die Parodie wissenschaftlichen Wissens in dem Herbarium mit künstlichen Pflanzen von Alberto Baraya, der einen großen Kautschukbaum aus Latex herstellte; [28] die Skizze/Reportage von Susan Turcot, eine Reflexion über Entwaldung und ihre Auswirkungen auf die symbolischen und mythischen Lesarten des Urwaldes und auf die dortigen Bewohner; die Analyse von Überlebensstrukturen und neuen Formen der Gemeinschaft in Acre von Marjetica Potrc; die Installation eines Systems, das die Nachhaltigkeit landwirtschaftlicher Gemeinden im Urwald gewährleistet produziert von der dänischen Gruppe Superflex.
Thema
Hélios Bild spricht vom Urwald, genauer gesagt, der Urwald spricht durch Hélios Arbeiten, und zwar wörtlich. Da ihm Pigmente für seine Arbeiten fehlten, entwickelte Hélio Melo seine eigene Methode, sie aus zerdrückten Blättern (vermutlich die des Kautschukbaums), der Rinde, den Wurzeln und Früchten zu gewinnen. Den Latex benutzte er als Verdickungsmittel. [29] Die für seine Werke typische grünliche Färbung ist vermutlich das Resultat dieses Prozesses. Eine der wiederkehrenden Bildtechniken in Hélios Arbeiten ist die Reihe spitz zulaufender Blätter am unteren Rand des Gemäldes, die einen theatralischen Vordergrund bildet und die Handlung in "den Wald" versetzt. Dieser kleine Vorhang aus Blättern ist nicht gemalt worden: Er dient als einführendes Zeichen, da es aus speerförmigen Blättern besteht, die in Pigment getunkt und direkt auf das Medium als eine Art Stempel aufgetragen wurden. Hélios Bild stellt nicht nur das Leben im Urwald dar, der Wald wird durch seine ausgiebige Verwendung sowohl als Thema wie auch als Pinsel präsentiert.
Poetische (Mikro)politik
Hélios Estrada de Floresta kann in diesem Kontext auch als eine Wiederbelebung kultureller Werte und Traditionen, die mit dem Gummizapfen zu tun haben, interpretiert werden, und zwar zu einer Zeit als die Holzgewinnungsfirmen, Viehzüchter und Getreidebauern staatliche Konzessionen für die Abholzung des Waldes bekamen. Man sollte nicht vergessen, dass Acre der Geburtsort von Chico Mendes, einem anderen Gummizapfer, ist. Chico kämpfte mit unkonventionellen Mitteln gegen die Zerstörung des Urwalds, etwas, das empates genannt wurde – ein kollektiver Aktivismus nicht ohne poetischen Schwung. Dabei hielten sich die Männer, Frauen, Alten und Kinder ganzer Gemeinden bei den Händen und umzingelten die Arbeiter, die die Bäume fällen sollten. Er konnte mit dieser Strategie große Landstriche, auf die ganze Gemeinden zum Überleben angewiesen waren, gegen die Interessen der Grundbesitzer verteidigen. [30] Chico war ein Verfechter der Idee der reservas extrativistas, die weiter ging als der traditionelle Schutz des Urwalds durch Umweltschützer. Die reservas extrativistas dienten nicht nur der Bewahrung des Urwaldes als natürliche Ressource gegen die massive Entwaldung für Viehzucht und Monokultur, sondern auch der Aufrechterhaltung des Jahrhunderte alten kulturellen Erbes, das von Generationen von Indianern und Siedlern praktiziert wurde: das Gummizapfen. Der Regisseur Adrian Cowell, bekannt für seinen Dokumentarfilm The Decade of Destruction (Das Jahrzehnt der Zerstörung) über die Entwaldung in Brasilien, sagt: "Der große Vorteil der reserva extrativista waren die Menschen, die in der Lage waren, ihre Grenzen zu verteidigen und eine soziale Bewegung zu bilden, die in der Lokalpolitik mitsprechen konnte. So wie ein besonderer amazonischer Baum Ameisenkolonien Nahrung bietet, um sich gegen andere Ameisenarten zu schützen, sind die Gummizapfer und Indianer die geborenen Verteidiger des amazonischen Regenwaldes." [31]
Die Länder, die sich den Regenwald teilen, diskutieren nun über eine Entscheidung zwischen dem Kampf zur Bewahrung der natürlichen Umwelt und den Gewohnheiten und sozialen Bräuchen, die mit einer nachhaltigen Nutzung des Waldes verbunden sind, einerseits, und der Verbesserung der Lebensbedingungen, wohlgemeint zwar, doch meistens schlicht im Dienste privater Interessen, die darin liegen, die "isolierten Gemeinden" an die globalisierte Welt anzuschließen. Das Beharren auf Methoden der Penetration als eine Lösung der Probleme, die mit der Isolierung der Gemeinden im Regenwald zusammenhängen, erinnert in der Hartnäckigkeit an den Bau der Eisenbahnlinie zwischen den Madeira und Marmore Flüssen, der zur Entwicklung von Acre zu einem unabhängigen Territorium im Jahre 1899 und seiner Annexion durch Brasilien 1904 beitrug. [32]
Die bemerkenswerteste Ähnlichkeit zwischen diesen beiden Trends liegt vielleicht in der Aufgeregtheit ihrer Verteidiger und Kritiker. Die Befürworter ausgedehnter Landwirtschaft argumentieren, eine erhöhte Produktion führe zu mehr Steuereinnahmen, Leistungen und Jobs. Ihre Gegner verteidigen die Gemeinden, die die Ressourcen des Urwalds rational und nachhaltig nutzen. Dabei vergessen die erbitterten Verteidiger der Tradition des Gummizapfens – aus dem sie einen Gründungsmythos gemacht haben – bei dieser Idealisierung, dass die Gummiindustrie zur Ausrottung ganzer Gruppen indigener Völker geführt hat: In Wirklichkeit war der Wohlstand flüchtig und illusorisch, er kam nur Wenigen zugute - ganz zu schweigen von dem Blut und dem Leiden, das sie hinterließ. [33]
Gute Absichten sind immer einseitig und werden nicht unbedingt von denen, an die sie gerichtet sind, geteilt. Die Auferlegung ausländischer Standards fiel aufgrund des reiferen politischen Kontexts nicht länger auf fruchtbaren Boden. Der Ethnobotaniker Wade Davis bemerkte, dass durch den Kontakt zu Gemeinden, deren Geschichte, Bräuche und Mythen uns unbekannt sind, wir dazu tendieren, "eine Vergangenheit, die wir nicht persönlich erlebt haben, zu idealisieren und denjenigen, die sie erlebt haben, nicht erlauben, sie zu verändern. Wir haben womöglich die am meisten beunruhigende Lehre der Anthropologie vergessen. Wie Levi-Strauss bemerkte, haben ‚die Menschen, für die der Kulturrelativismus erfunden wurde, ihn abgelehnt’." [34] Zurzeit gibt es in Brasilien eine Reihe von Initiativen wie die Universidade da Floresta (Universität des Waldes), denen es um lokale Lösungen geht, die das Wissen der Gemeinden in die Konzeption von Entwicklungsstrategien, die sowohl kulturell als auch ökonomisch nachhaltig sind, einbeziehen. All dies führt uns wieder zurück zu Hélios Gummizapfer, einsam vor seinem Baum/seines Urwaldes: "Es gibt nur eine Lösung: lass alles zurück und bahne dir ohne Behinderung einen Weg, mit den Händen in der Höhe, in dem Versuch zu bauen und nicht zu zerstören." [35] Die slowenische Künstlerin Marjetica Potrc, die 2006 in Acre lebte, weist darauf hin, wie Isolation als ein relativer Vorteil betrachtet werden kann, in dem Sinne, dass lokale und originelle Lösungen zu Problemen, die wesentlich lokaler Natur sind, durch die Einbeziehung des Wissens der Bewohner, Kleinbauern und Gummizapfer entwickelt werden können. Diese Strategie bietet Einsichten in die lokale Mikropolitik hinsichtlich der Frage, welches Modell angewendet werden soll - im Gegensatz zu globalen Lösungen, die die spezifischen Details des Territoriums ignorieren. "In den vergangenen 15 Jahren sind große Gebiete in Acre Gemeinden, darunter auch Gemeinden der indigenen Bevölkerung, zur nachhaltigen Verwaltung übergeben worden. (...) Nachhaltigkeit betrifft die Umwelt ebenso wie die Ökonomie. Diejenigen, die diese Gebiete bearbeiten, betrachten diese Kleinökonomie als Werkzeug für ihr eigenes Überleben und als ein neues ökonomisches Modell für das Überleben des Planeten und der gesamten Gesellschaft. Hängt die Zukunft der Erde von der Balance zwischen lokal kontrollierten Territorien und den globalisierten Kräften der multinationalen Konzerne ab? Die Menschen, mit denen ich gesprochen habe, sind eindeutig dieser Ansicht, und das ist gut so, denn das, was als letzte Grenze der Welt – der Urwald – bezeichnet wurde, ist nun betreten worden. In vielerlei Hinsicht stellt Acre die letzte Grenze der Erde dar." [36]
Anmerkungen:
José Roca
Kurator, lebt in Bogotá, Kolumbien. Künstlerischer Leiter von FLORA ars+natura.
Hélio Melo
* 1926 Vila Antimari, Boca do Acre, Bundesstaat Amazonas, Brasilien.
+ 2001 Goiânia, Brasilien.
Visueller Künstler, Komponist, Musiker, Autor, seringueiro (Kautschuksammler).
Bild oben:
Estrada da floresta. 1983
(Straße durch den Wald)
Pigmente auf Sperrholz