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Jenseits der Krise

Konzept von Alfons Hug und Ticio Escobar

Bei zentralen Begriffen der Gegenwart tut man gut daran, ihre sprachliche Herkunft genauer zu beleuchten.

Das Wort "Krise" verdient in diesem Zusammenhang besondere Beachtung, ist es doch als Grundgeräusch heutzutage allgegenwärtig und beherrscht es doch in immer neuen Komposita den Diskurs auf verschiedenen Feldern: von der Wirtschaft bis zur Kultur.

Schon Goethe schauderte vor dem "beständigen Taumel von Erwerben und Verzehren" und rätselte, wie das im Krieg zerstörte Haus seines Großvaters als Schutthaufen doppelt so viel wert war wie vor dem Krieg.

Wie wird etwas zu Geld und wie berechnet sich sein Tauschwert? Ist es die Arbeit, der Markt, die Knappheit oder gar das Begehren?

Im Griechischen bedeutet κρίσις (krísis) ursprünglich "die Meinung", "Beurteilung", später eine problematische Entscheidungssituation.

Seit dem 16. Jahrhundert ist der Begriff in der Medizin nachweisbar, wo er einen kritischen Punkt im Krankheitsverlauf und eine Markierung zwischen Leben und Tod bezeichnet.

Wenn Krise einmal eine Zuspitzung und ein Wendepunkt war, dann ist sie heute zur "Dauerkrise" geworden, d.h. eine nie enden wollende Verschleppung unhaltbarer Zustände.

Das Verb κρίνειν (= unterscheiden, trennen) bildet aber nicht nur die Wurzel von "Krise", sondern auch von "Kritik", ein glücklicher Umstand, welcher der Kunst nun große Wirkungsmöglichkeiten eröffnet.

Die Kunst agiert sowohl diesseits als auch jenseits der Krise. Diesseits, weil sie sich inhaltlich und formal auf die Krise bezieht, ja selbst von ihr betroffen ist, und jenseits, weil sie über die Krise hinausweist und der Gesellschaft Alternativen anbietet.

Auch wenn in der Kunst der Titel weiter nichts als der Hinweis auf ein von den Künstlern frei zu bearbeitendes Thema ist, soll der Name "Jenseits der Krise" doch das künstlerische Schaffen anregen und die Reflexion auf bestimmte Schlüsselfragen der zeitgenössischen Kunst lenken.

Das Wort "Krise" ist besonders in seiner anstachelnden und suggestiven Bedeutung als Wendepunkt zu verstehen, der angesichts eines jähen Paradigmenwechsels Entscheidungen, Stellungnahmen und neue Bilder erfordert. Dabei bezeichnet "jenseits" nicht unbedingt "danach", sondern zielt auf einen dazwischen liegenden Ort ab, auf eine Falte oder auf einen dritten Ort, von dem aus sich die Krise von innen und außen betrachten lässt.

"Jenseits…" kann im engeren Sinne auch darauf anspielen, dass der kritische Moment schon vorüber ist (der Höhepunkt zeigt immer eine bereits gewesene Situation an, denn nur so kann er als solcher bezeichnet werden). Der Begriff kann sich aber auch auf die Notwendigkeit beziehen, weitere Orte zu benennen, von denen aus die Krise kreativ und anders erkannt und abgewehrt werden kann. Er könnte sogar die Forderung anzeigen, sich einen Zeit-Raum vorzustellen, der zwar außerhalb des kritischen Raums liegt, aber doch von ihm angetrieben wird. Die Kunst darf nicht auf ihren utopischen Anspruch verzichten: die Fantasie ist immer ein vorausschauendes und sogar verheißendes Mittel. Sogar die negativsten und melancholischsten Handlungen der zeitgenössischen Kunst zielen insgeheim auf ein "Jenseits…" ab, auf einen Ort des Wartens oder auf ein sich dem Geschehen Öffnen.

Die eingeladenen Künstler wollen weder Rezepte zur Überwindung der Krise anbieten noch ihr Drama darstellen, sondern unterschiedliche Sichtweisen vorschlagen: die Stellungnahmen gegenüber der Krise führen zu kreativen Arbeiten, die neue Perspektiven und Horizonte aufzeigen können.
 

Die Kunst begegnet der Krise, indem sie ihre eigenen Darstellungssysteme permanent hinterfragt, immer wieder über die Definition von Kunst selbst und über ihre Institutionen und Akteure (Museen, Markt, Biennalen, Theorie usw.) reflektiert. Aus dieser Perspektive wirkt die Krise nicht nur befruchtend für die Kunst, die Kunst ist in ihrem Schaffen auch notwendigerweise von Konflikt- und Spannungsmomenten abhängig. Sie ist ja gerade eines der wichtigsten Dispositive, über die die Kultur der Gegenwart verfügt, um ihre eigenen Aussagen in Frage zu stellen, ihre Werte und Gesetze zu erneuern und zu verhindern, dass die kollektive Wahrnehmung in einem festgelegten Begriff von Gesellschaft verharrt.

Alfons Hug und Ticio Escobar
Generalkuratoren

6. Curitiba Biennale
18 Sept. - 20 Nov. 2011

Curitiba, Brasilien

Titel:
Jenseits der Krise

Generalkuratoren:
Alfons Hug
Ticio Escobar

Ko-Kuratorinnen:
Adriana Almada
Paz Guevara

Gastkuratoren:
Artur Freitas
Simone Landal
Eliane Prolik
Alberto Saraiva

72 Teilnehmer
Künstlerliste

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