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Viva Art Viva - Einführung

Von Christine Macel, Kuratorin der zentralen internationalen Kunstausstellung

Die Ausstellung: Kunst und Künstler/innen im Mittelpunkt

Kunst legt heute angesichts weltweiter Konflikte und Verwerfungen Zeugnis vom wertvollsten Anteil dessen ab, was uns menschlich macht. Kunst bietet den ultimativen Austragungsort für Reflexionen, individuellen Ausdruck, Freiheit und zugleich für grundsätzliche Fragestellungen. Kunst ist immer dann ein bevorzugter Bereich, wenn es um Träume und Utopien geht, sie ist ein Katalysator für zwischenmenschliche Beziehungen, der uns mit Natur und Kosmos verbindet und der unserem Dasein eine spirituelle Dimension eröffnet. Darin zeigt sich die Kunst als ein letztes Bollwerk, als ein Garten, den es jenseits von Moden und Einzelinteressen zu hegen gilt. Sie stellt eine Alternative zu Individualismus und Gleichgültigkeit dar. Sie richtet uns auf und baut uns auf. In einer Zeit globaler Unordnung ist Kunst ein Ja zum Leben, auf das zugegebenermaßen häufig ein Aber folgt. Mehr denn je erscheinen die Rolle, die Mitsprache und die Verantwortlichkeit der Künstlerinnen und Künstler im Zusammenhang zeitgenössischer Debatten als entscheidende Faktoren. Durch diese individuellen Einsätze gewinnt die Welt von morgen eine wenn auch sicherlich noch ungewisse Gestalt, für die Künstlerinnen und Künstler oft ein besseres Gespür bewiesen haben als andere.

VIVA ARTE VIVA ist ein Ausrufezeichen, leidenschaftlich will sie die Kunst und die Situation des Künstlers / der Künstlerin ins Bewusstsein rufen. VIVA ARTE VIVA ist eine Biennale, die mit den Künstlerinnen und Künstlern, durch sie und für sie geschaffen wurde, es geht ihr um die von ihnen vorgestellten Formen, die von ihnen aufgeworfenen Fragen, die von ihnen entwickelten Arbeitsweisen, die von ihnen gewählten Lebensformen.

Statt ein einziges Thema vorzugeben, bietet die Ausstellung einen Parcours, der sich den Werken der Künstlerinnen und Künstler anschmiegt, einen Kontext, in dem Zugänglichkeit und Verständlichkeit die Hauptrolle spielen und der dabei zugleich Begegnungen, Resonanzen und Reflexionen stiftet. Die Reise entwickelt sich in neun Kapiteln bzw. Künstler/innenfamilien und beginnt mit zwei einführenden Bereichen im Hauptpavillon, denen sieben weitere im Arsenale bis zum Giardino delle Vergini folgen. Jedes Kapitel besteht aus einem eigenen Pavillon oder vielmehr einen Trans-Pavillon, da die Pavillons transnational werden, dabei aber die historische Gliederung der Biennale in Pavillons aufgreifen, deren Zahl seit dem Ende der 1990er Jahre stetig gewachsen ist. Diese semantische Anspielung bezieht sich auf die so häufig diskutierte Frage, ob die Länderpavillons noch Relevanz besitzen, und überwindet sie dabei, denn jedes Kapitel vermischt Künstler/innen aus allen Generationen und Herkunftsländern. Es gibt allerdings keine tatsächliche Trennung zwischen den Pavillons mehr, die stattdessen wie die Kapitel eines Buches ineinander übergehen. Vom Pavillon der Künstler/innen und Bücher zum Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit entfalten diese neun Episoden eine Erzählung, die häufig diskursiv und zuweilen paradox ist und immer wieder Umwege einschlägt, die die Komplexität der Welt, die Vielfalt der Positionen und das Spektrum der Verfahren wiedergeben. Die Ausstellung ist als eine Erfahrung angelegt, als eine nach außen gerichtete Bewegung vom Selbst zu dem Anderen, zu einem gemeinsamen Raum außerhalb definierter Dimensionen und von dort aus weiter zu einem potentiellen Neo-Humanismus. Diese Bewegung der Öffnung des Subjekts auf das Unbekannte hin, wo die Erfahrung und das spekulative Moment im Vordergrund sind, ist in sich selbst eine Antwort auf ein konservatives Klima, sie trotzt Vorurteilen, Misstrauen und Gleichgültigkeit.

VIVA ARTE VIVA möchte ebenso eine positive, vorwärtsgewandte Energie vermitteln, die sich auf junge Künstler fokussiert, aber auch zu früh verstorbene Künstler/innen oder trotz der Bedeutung ihres Werkes noch nicht so bekannte Künstler/innen wiederentdeckt. Diese Entdeckungen und Wiederentdeckungen ermöglichen es, die Werke mehrerer Künstler/innengenerationen zu verbinden, was in jedem Pavillon einen Blick auf Fragen anbietet, die schon in den 1960er und vor allem den 1970er Jahren gestellt wurden. Die Künstler/innen nehmen diese Fragen heute, in einer sich in permanentem anthropologischem und gesellschaftlichem Wandel befindenden Welt, wieder auf. Die Interpretationen der Künstler/innen setzen an bestimmten Formaten an, die die Fragestellungen der Zivilgesellschaft insgesamt widerspiegeln. Die Kunst mag die Welt nicht verändert haben, doch bleibt sie der Ort, von dem aus sich die Welt neu erfinden lässt.

Ausgehend vom Pavillon der Künstler/innen und Bücher stellt die Ausstellung als Grundthese eine Dialektik in den Raum, die die gesamte zeitgenössische Gesellschaft jenseits der Künstler/innen selbst betrifft und die die Organisation der Gesellschaft ebenso befragt wie ihre Werte. Kunst und Künstler/innen sind das Herz der Ausstellung, die mit einer Befragung ihrer Arbeitsweisen beginnt, über die Art des Kunstschaffens zwischen Muße und Handeln, zwischen otium und negotium. Das römische otium, Nachfahre der griechischen schole, stellt einen privilegierten Augenblick dar, der heute unzureichend mit dem Ausdruck Müßiggang wiedergegeben wird, mit einem negativen Beigeschmack behaftet, oder durch den Begriff leisure übersetzt wird, der im Englischen nicht weit von entertainment entfernt ist. Das echte Otium beinhaltet, im Gegensatz zu Geschäftswelt oder negotium, denen Künstler/innen ohnehin nicht entkommen, diese freie Zeit, die Zeit des Nichthandelns und der Nichtverfügbarkeit, der fleißigen Muße und der geistigen Arbeit, der Ruhe und des Handelns, in der eben das Kunstwerk seine Geburt erlebt.

Allein schon die Entscheidung, Künstler/in zu werden, bedeutet eine gesellschaftlich Position zu beziehen. Der Beruf des Künstlers ist zwar heute sehr populär und anerkannt, aber wird dennoch als eine Entscheidung wahrgenommen, die Arbeit als absoluten Wert in der gegenwärtigen Welt sowie auch ihre Entsprechung, das Geld, in Frage stellt. Künstler/in zu sein, bedeutet zwischen dem Privatmenschen und dem öffentlichen Menschen zu differenzieren, wobei letzteres nicht so sehr den Menschen meint, der in den Medien auftaucht, sondern den Menschen, der sich mit der res publica, der öffentlich geführten Debatte, auseinander setzt. Auch wenn Künstler/innen Werke für ein kommerzielles System schaffen, zeigen die Grundbedingtheiten seiner Arbeit selbst eine Alternative auf, wo Nichtstun, unproduktives Tun, geistiges Umherschweifen und Recherchieren von grundlegender Bedeutung bleiben. Und diese Position bleibt nicht folgenlos für die Art, wie die Zivilgesellschaft selbst ihre freie Zeit wahrnimmt. Sie ist nicht mehr die Zeit, die man einfach so verbringt oder konsumiert, sondern ist Zeit, die man für sich selbst hat.

 

Die neun Trans-Pavillons:

Der Pavillon der Künstler/innen und Bücher öffnet sich auf eine Spannung zwischen Handeln und Nichtstun, Trägheit und aktivem Engagement. Er unterzieht die Daseinsweise des Künstlers, die positiven und negativen Argumente für und gegen das "Herstellen von Kunst" einer Befragung, doch manchmal - nicht ohne eine Spur von Sarkasmus - auch auf die Kunstszene als solche. Auf dem Weg durch den Pavillon öffnen Ateliers ihre Tore, die mehr und mehr einem Büro, einem Warenlager oder einem Gruppen-Arbeitsplatz gleichen. Das Atelier ist nicht mehr nur eine Stätte privatester Suche, sondern eine Art Labor, das unterschiedliche Fähigkeiten aneinanderkoppelt und zugleich auch die Hierarchiefrage stellt. Es ist nicht mehr "factory", sondern Workshops auf der Grundlage eines gemeinsamen Lebens, der Verbindung von Fertigkeiten in einer horizontalen, vielfach verknüpften Organisation, und so stehen die Türen der Ateliers von Anfang an einem öffentlichen Raum offen.

Die materiellen und geistigen Welten der Künstler/innen kommen zur Entfaltung, insbesondere durch ihre Beziehung zum Buch, zum Text im weiteren Sinne, zur Erkenntnis, dem Leitmotiv zahlreicher Werke. In einem Zeitalter, das als Post-Intemet-Epoche beschrieben wird, scheinen die Bindungen der Künstler an das geschriebene Wort nicht gelockert, sondern um neue Reflexionen bereichert. Die Ambivalenz des Künstlers / der Künstlerin dem Buch gegenüber, und vor allem die Ambivalenz gegenüber dem Sinn, liefern eine Vorahnung auf eine Epoche tiefgreifenden Wandels von Sprache, Erkenntnis, Zugangsmöglichkeiten zu Wissen und ihres Orts in der Gesellschaft, während der Künstler / die Künstlerin sich wie eh und je durch seine Bezugnahme auf die Kunstgeschichte definiert.

Die Ausstellung entwickelt sich anschließend organisch in einer Abfolge von Pavillons, Räumen oder stanze und bietet den Betrachter/innen die Erfahrung einer Reise von der Innerlichkeit bis zur Unendlichkeit gleicht.


Der Pavillon der Freuden und Ängste beschwört die Beziehung des Subjekts zu seiner eigenen Existenz, seinen Gefühlen und Empfindungen, oder zu denen herauf, die es selbst erzeugt. In einer Welt, die von Konflikten, Kriegen, wachsender Ungleichheit erschüttert wird, was zu Populismus und Ablehnung der Eliten führt, brechen sich subjektive Gefühle mehr denn je Bahn. Die Zeitläufte zwingen dazu, das eigentliche humanum gedanklich neu zu fassen, nicht nur als das vernunftbegabte Wesen, das imstande ist, eine neue, freie und brüderliche Welt zu bauen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit seinen Trieben und Gefühlen, mitunter auch den weniger hoch stehenden wie etwa Furcht, Angst oder Aggression. Hier tritt ein verletzliches, zerbrechliches Individuum zutage. Neuartige Empfindungen der Fremdheit im Gefolge der Migrationen oder der massenhaft durchgeführten Überwachung, Erfahrungen des Vergessens, der Verzerrung oder der existentiellen Aufhebung stellen sich ein. Parallel dazu beschwören mehrere Künstler/innen das Individuum in seinen innersten Gefühlen, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen mit den engsten persönlichen Angehörigen oder der Bindung an das Herkunftsland verknüpft werden. Diese Gefühle der Wehmut und Entfremdung kommen im Modus der Science fiction oder des Comics, zum Tragen. Diese Künstler/innen betreiben eine Wiederaneignung des Selbst, seines Körpers und seiner Empfindungen, sehen sie dieses doch als allzu oft vergessene Quelle und als Ursprungsort unseres Denkens. Die Neuerfindung eines Humanismus muss sich also auf Vernunft stützen und steht, fern jeder Isoliertheit, mit der Wirklichkeit der Empfindungen in Verbindung.


Der Pavillon der Gemeinschaft, der den Parcours im Arsenale eröffnet, vereint Künstler, deren Werk sich mit dem Thema der gemeinschaftlichen Welt befasst, mit der Art, wie eine Gemeinschaft gebildet werden kann, die über Individualismus und Partikularinteressen hinausreicht, stellen diese doch im heutigen, von Sorgen gekennzeichneten Klima ein besonders bedrohliches Phänomen dar. Diese Frage, die mit besonderer Lebendigkeit in der Geschichte der "zeitgenössischen Kunst" der späten 1960er und 1970er Jahre präsent war, besitzt auch heute Relevanz, wenngleich diese mittlerweile durch das Scheitern und die folgende Desillusionierung solcher utopischer Träume vermindert scheint. Der anthropologische Aspekt gewinnt hier mit mehreren historischen Werken besondere Wichtigkeit und stellt die Frage nach dem Gemeinschaftlichen an Stellen, wo die Distanz in den Weltbildern sich als besonders groß herausstellt, oder auch da, wo ohne ideologischen Anspruch eine Verbindung zur Erde und zur Gemeinschaft eingegangen wird. Mehrere Künstler/innen haben diesen partizipatorischen Ansatz zum Modus ihres Kunstschaffens erhoben, den sie in verschiedenen Dimensionierungen umsetzen.

Stärker ambivalente Werke beklagen den Verlust des Gemeinschaftlichen und verleihen ihrem Wunsch Ausdruck, dieses wiederzufinden, wobei sich mitunter ein Gefühl von Vergeblichkeit einstellt. Wie anders lässt sich ein Gemeinsames in einer Welt schaffen, die daran gescheitert ist, all ihre Projekte von Gleichheit und Brüderlichkeit umzusetzen, wenn nicht in einer Neuschöpfung von Handlungsmöglichkeiten auf einer mikropolitischen Ebene?


Der Pavillon der Erde erinnert gleichfalls an die Utopien, Beobachtungen und Träume, die sich um die Themen Umwelt, Planet Erde oder auch Welt der Tiere rankten. Von den Utopien des Kommunitarismus zu den ökologischen und esoterischen Bewegungen der 1970er Jahre weiter zu den aktuellen Auseinandersetzungen um die Bande zwischen Umwelt und kapitalistischen Strategien, und schließlich von den individuellen Fiktionen strahlt eine gewisse Wehmut, aber auch tief empfundene Freude aus. Einige Utopien, die an den Beginn der Umweltbewegung zurückreichen, zielen auf das Kunstwerk in einem weiteren Sinn ab, das in die Umwelt und die Lebenswelt eingepasst wird. In programmatischer Verwerfung der vom individualistischen und sesshaften Fortschritt geprägten Welt setzen andere Künstler ihre Aktionen außerhalb des etablierten Kunstbetriebs fort, während andere den Niedergang ihrer Umwelt dokumentieren. Die Themen der alternativen Energien und des Umbaus der Industrie, die Ausbeutung der ökologischen Ressourcen, die in historischer Perspektive, und hier besonders in Verbindung mit der Kolonialgeschichte gedeutet werden, finden sich in den Werken mehrerer Künstler/innen, wobei die Trauer über das Verlorene Hand in Hand mit der Ahnung einer ungewissen Zukunft geht.

Der Pavillon der Traditionen
Die Traditionen, die im Zeichen der Aufklärung seit dem 18. Jahrhundert und dann der säkularen Modernen verworfen wurden, feiern heute mit fundamentalistischen und konservativen Ideologien ihre Wiederkehr in der schlimmsten Form, wodurch sie Ablehnung und Heimweh nach vermeintlich besseren alten Zeiten erzeugen. Der Zeitraum der letzten dreißig Jahre, der zweifellos einerseits das Projekt der Moderne und den Glauben an einen neuen Menschen ins Wanken gebracht sah, hat es andererseits im Feld der Kunst ermöglicht, die Frage nach der Tradition neu zu stellen, nicht mehr unter dem Leitmotiv von Sitten und Gebräuchen, die häufig mit Religion und Moral verknüpft sind, sondern im Sinne der Dialektik von Alt und Neu. In den letzten Jahren konnten wir eine große Schar an Kunstschaffenden erleben, die sich nicht nur mit der jüngeren oder jüngsten Zeitgeschichte, sondern mit einer fernen Vergangenheit befassten, als wären sie von einer archäologischen Sehnsucht nach Ausgrabung, Neulektüre und Neuerfindung getrieben. Kunst wird zur Signatur einer ins Wanken geratenen Epoche, wo das Gefühl der verstrichenen Zeit sich zu neuen Werten öffnen muss; sie sucht die Geschichte langfristig auf der Suche nach verlässlichen Anhaltspunkten ab und erfüllt eine Art Wunsch nach Legitimität, Neubegründung und Neuerfindung.


Im Pavillon der Schamanen positionieren sich mehrere Künstler in der Abstammungslinie der "Schamanenkünstler" bzw. derjenigen, die nach einem Wort Marcel Duchamps auch missionarisch tätig werden, beseelt von einer inneren Vision. Diese Figur, die Joseph Beuys sich angeeignet hatte und von der andernorts wenig auf gegriffen, deren Wirkung mit dem Verblassen dieser Gestalt unterschätzt worden ist, gewinnt heute eine neue Aussagekraft, wo sich ein Bedürfnis nach Sorge für die Seele und Spiritualität behauptet. Diese spirituelle Wende, bei der eine neue Achtsamkeit und Meditation sich verbinden, verweist manchmal auf verschiedene Philosophien, insbesondere aus dem Bereich des Buddhismus und des Sufismus. Andere setzen sich in einem postkolonialen Kontext mit der Dämonenaustreibung oder der Läuterung auseinander, wobei sie nachträglich Ausbeutung und Sklaverei dem Bann unterwerfen. Das Erfinden von Erzählungen oder Inszenierungen, die sich Heilritualen annähern, unterstreicht diese Hinwendung zum Heiligen, einem Schlüsselelement zu Beginn des 21. Jahrhunderts, ohne dass dieses jedoch als Ausflucht zum Religiösen hin diente. Künstlerisch-politisches Eingreifen versucht die Ruinen der Vergangenheit und die Wunden der Gegenwart zu transzendieren, und er schlägt dabei einen durchaus spielerischen Tonfall an, der mal materiell, mal ironisch ist.


Der dionysische Pavillon feiert den weiblichen Körper und seine Sexualität, das Leben und die Lust mit Freude und Witz; in seinem Mittelpunkt stehen zahlreiche Werke von Künstlerinnen. Zeichnungen, Kostüme, geometrische Gemälde mit erotischen Linien, organische Skulpturen oder Photographien erfinden ein neues Bild des weiblichen Körpers, dem hier nicht von außen mit dem Blick des Begehrens begegnet wird, sondern der von innen her oder auch von seinen Außengrenzen her gesehen wird. Als Hymne auf die Sinnlichkeit und die Trunkenheit zieht der dionysische Pavillon gleichermaßen Musik, Tanz, Gesang und Trance als taugliche Zugangspforten zu dieser Dimension, wo neuartige Bewusstseinszustände möglich werden.


Der Pavillon der Farben
Da nach heute allgemein anerkannten neurowissenschaftlichen Studien die Farben als solche nicht existieren, sondern das Resultat einer kognitiven Hirnfunktion und des die Wirklichkeit entziffernden Auges sind, erscheinen sie als Quelle einer besonders subjektiven Empfindung, die dazu auffordert, die phänomenologischen Ansätze bei der Kunstbetrachtung auf den Prüfstand zu stellen. Der Pavillon der Farben befindet sich in einer subtilen Balance von Zartheit und Transparenz, Licht und Spiritualität, haptischer Erfahrung und visueller Explosion, die manchmal mit anthropologischen oder auch politischen Konnotationen einhergeht; der Pavillon ist somit eine Art "Feuerwerk", in dem alle Themen der voraufgehenden Pavillons am Ende des Parcours des Arsenals zueinander finden; eine geradezu betörende Erfahrung, die dem letzten Kapitel vorangeht.


Der Pavillon der Zeit und der Unendlichkeit
Welche Form könnte ein metaphysischer Zugang zur Kunst heute annehmen? Die Zeit als reines Fließen, als unablässige Kontinuität des Wandels und der Hinfälligkeit zum Tode hin ist eine Dimension seit den 1970er Jahren ein fester Bestandteil der Werke von Künstler/innen, als die konzeptionelle Performance in ein Mischungsverhältnis mit dem Nachdenken über die Dauer und den unweigerlichen Verfall eintritt. In der Neuformulierung durch Künstler/innen ab den 1990er Jahren zur Zeit des "Präsentismus", einer aufgehobenen Zeit sowie auch im Zeichen einer extrem momenthaften Konzeptkunst taucht der Begriff der Zeit heute mit einer neuen metaphysischen Qualität erneut auf: inmitten an Borges erinnernder Labyrinthe, der Spekulationen über eine in der Gegenwart enthaltene Zukunft oder über eine ideale Unendlichkeit. Angesichts der Lagune verschwinden die Künstler/innen, oder sie erfinden sich mithilfe von Hypnose neu -als "Verbesserte".

 

Rahmenveranstaltungen

Die Objekte und Veranstaltungen, die parallel zur Ausstellung stattfinden, folgen demselben Leitgedanken, nämlich, dass die Künstler/innen im Mittelpunkt der Ausstellung zu sehen sind Der Katalog der Ausstellung widmet sich einzig und allein den Künstler/innen, die aufgefordert wurden, visuelle und textgebundene sprachliche Dokumentationen ihrer Arbeit und ihrer jeweiligen Kontexte zu liefern.

Da die Kunstschaffenden auf mehr als nur eine Weise entscheidende Treibkraft hinter VIVA ARTE VIVA sind, soll ihnen auch auf besondere Weise Gehör geschenkt werden. An allen Freitagen und Samstagen jeder Woche wird eine Künstlerin oder ein Künstler während der sechs Monate der Ausstellung zu einem Offenen Tisch (Tavola Aperta) einladen, wobei sie oder er das Publikum bei einem gemeinsamen Frühstück trifft, um die eigene Arbeit vorzustellen und in einen Dialog mit dem Publikum einzutreten. Diesen Veranstaltungen sind zwei Orte Vorbehalten, und zwar vor dem Hauptpavillon der Giardini und in der neuen Waffenkammer des Arsenals, während ein Live-Streaming auf der Website der Biennale allen Interessierten ein direktes Miterleben ermöglicht.

An diesen beiden Orten ist ferner ein Raum dem Projekt Künstlerische Praktiken gewidmet, eine Sammlung kurzer, von den Künstlern selbst gedrehter Videos, die ihre Weitsicht und ihre Arbeitsweisen entdecken lassen. In den der Eröffnung der Ausstellung vorangehenden Wochen wird jeden Tag ein Video auf der Website der Biennale freigeschaltet; so kann man bereits mit dem Kennenlernen der Kunstschaffenden beginnen.

Diese beiden Projekte stehen allen Künstlern der Biennale offen. Jeder nationale Pavillon wird somit mittwochs tagen und donnerstags zur Teilnahme an der Tavola Aperta eingeladen sowie zum Hochladen von Videos auf die Künstler-Datenbank aufgefordert. Mithilfe dieser Zuarbeit möchte VIVA ARTE VIVA die Einheit der Biennale rings um die Künstler selbst verstärken.

Schließlich soll das Projekt Ich packe meine Bibliothek aus, angeregt durch Walter Benjamins Text aus dem Jahr 1931, bei allen Künstlern eine Liste ihrer Lieblingskunstwerke anführen; dies wird dann eine Quelle zur besseren Kenntnis jeder Künstlerin und jedes Künstlers werden und dem Publikum als Inspiration dienen (vgl. Walter Benjamin, Ich packe meine Bibliothek aus. Eine Rede über das Sammeln, gefolgt von einer Liste der vom Autor gelesenen und gesammelten Schriften). Das Projekt wird in der Ausstellung des zentralen Pavillons sowie im Katalog zu sehen sein. Der Stirling-Pavillon beherbergt die von den Künstlern zusammengestellte, dem Publikum zur Verfügung stehende Bibliothek.


Sonderprojekte und Performances

Parallel zur Ausstellung des zentralen Pavillons und des Arsenals sind verschiedene Sonderprojekte speziell für die Giardini, den Giardino delle Vergini und andere Orte in Auftrag gegeben worden. Während der Eröffnungstage werden etwa 20 Vorführungen stattfinden. Sie werden als Streaming auf der Website der Biennale und dann in der Ausstellung zu sehen sein, und zwar in einem Videosaal, der eigens dem Arsenal gewidmet ist.


(Presseinformation, 6. Februar 2017
© Foto: Universes in Universe)

57. Internationale Kunstausstellung
La Biennale di Venezia

13. May - 26. November 2017


Viva Arte Viva
Zentrale internationale Ausstellung

Kuratorin: Christine Macel

120 Teilnehmer


Siehe auch in UiU:

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