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Reflexionen über das Kuratieren eines Projekts von Sarkis für den Pavillon der Türkei auf der Biennale Venedig 2015 und den Kontext des 100. Jahrestags des Genozids an den Armeniern.
Von Defne Ayas | Aug 2015Nach hochrangigen Besuchen von Kulturministern wie Jet Bussemaker, Ministerin für Bildung, Kultur und Wissenschaft der Niederlande, und Fleur Pellerin, Frankreichs Ministerin für Kultur und Kommunikation, aber keinem von türkischen Ministern oberhalb der Botschafterebene, mit bewegenden Reaktionen, von Tränen bis zu Entzücken, von Hochachtung und Respekt bis zu Befremden ("Ist das wirklich die Türkei?"), einschließlich dem Austesten von Schwellen, tribalen Treffen der nationalen Szenen von Kunst und Journalismus in der Art von Game of Thrones, atmet Respiro von Sarkis noch bis zum 22. November in Venedig auf der 56. Internationalen Kunstausstellung, la Biennale di Venezia, und über die Stadt hinaus, während die Türkei politische Höhen und Tiefen mit ernsten Konsequenzen für den Rest der Region und der Welt durchlebt.
Respiro begann am 3. April zu atmen, dem ersten Tag der Installation, und erwachte am 23. April voll zum Leben, bezeichnenderweise einen Tag vor dem 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern. Das Werk besteht aus zwei Neon-Regenbogen und zwei großformatigen Spiegeln mit Fingerabdrücken in Wasserfarben von sieben Kindern. Bei einem dreitägigen Workshop vor dem Zentenarium übertrugen sie die Muster des Kosmos, die Sarkis in seine Skizzenbücher gezeichnet hatte, mit ihren Fingerspitzen auf die Spiegel. Die jungen Mitwirkenden - Abay, Anna, Aren, Helin, Karla, Claudia und Linda - kommen aus Istanbul und Venedig und sprechen nicht nur Türkisch und Italienisch, sondern auch Armenisch, Kurdisch, Arabisch, Aramäisch und sogar Chinesisch. Gut möglich, dass Sarkis Opus magnum Respiro auch einige seiner ikonischen Skulpturen zusammenbringt, darunter ein Altar aus rotem Glas, exakt so groß geschnitten wie der von Gemälden Caravaggios umgebene in der Kirche San Luigi dei Francesi in Rom. 36 in der Technik mittelalterlicher Glasmalerei geschaffene Scheiben hängen an den Wänden wie "Diamant-Ohrschmuck", um es mit Sarkis Worten auszudrücken. Diese beleuchteten Glasmalereien chiffrieren Schmerz, Krieg, Eros und Autobiographisches durch ein bildhaftes Orchester, um eine geschickte aber subtile Kritik an der Menschheit zu üben: eine Handfläche hält eine Flamme; von der Wand blickt ein Seraph hoch oben in der Hagia Sophia, die kurz davor ist, wieder zu einer Moschee zu werden; der ermordete armenische Journalist Hrant Dink lächelt vor einem Hintergrund aus Granatäpfeln; ein verschlafener Sergei Paradschanow (verfolgt in der Sowjetunion) wurde überrascht; und die Umarmung von Sultan Mihrimah durch den Groß-Architekten Sinan kommt mit einer Aufnahme vom Grab der Eltern von Sarkis zusammen, um nur einige der Bildwerke zu nennen.
Es besteht kein Zweifel, dass Respiro, was in Italienisch "Atemzug" bedeutet, von allen Werken, die Sarkis bis jetzt geschaffen hat, die größte persönliche Herausforderung gewesen ist. Wusste Sarkis, warum er jetzt eingeladen wurde, warum in diesem Jahr? Er ist ein Meister, der fünf Jahrzehnte lang Einfallsreichtum mit einer subtilen Kritik von Geschichte kombiniert hat - so geschickt, dass man sich vor dieser Hingabe nur verneigen kann. Natürlich wusste er es; er verbrachte schlaflose Nächte damit, über alles nachzudenken. Über seine Eltern, über unausgesprochene Dinge. Der persönliche Bezug war spürbar. Es würde nie ein weiteres 2015 geben. Das Fehlen eines Modells, eines Beispiels, war klar. Die einzige Voraussetzung: sein ein halbes Jahrhundert umspannendes Werk, dessen Zeitlosigkeit und dessen Zeitlichkeit. Und vielleicht noch etwas anderes: eine Liebe zu dem Land, befreit von einem Davor, Jetzt und Danach.
Wenn man bedenkt, dass der 100. Jahrestag der Ereignisse von 1915 eine Tatsache ist - unabhängig davon, ob die Einladung für den Pavillon zu arbeiten deswegen kam oder nicht - und dass Sarkis in seinem Œuvre so lange Zeit schon Themen der kulturhistorischen Kriegsbeute, Kriegsschatz [vom Künstler in Deutsch so genannt - Anm.d.Ü.], verschlüsselt und herausgearbeitet hat, war von vornherein klar, dass diese Ausstellung ein noch nie dagewesener Versuch sein würde.
Wir hatten unsere Bedenken, besonders am Anfang. Sollten wir benutzt werden? Falls ja, wie? Würden wir Teil eines Diskurses sein, der möglicherweise einen Schritt in Richtung Anerkennung des Genozids bedeutet, ein Wort, das zur Benennung der Massaker und Leiden nicht benutzt wird, ein technischer Begriff, eingeführt von Raphael Lemkin, verbunden mit Restitutionspolitik und wirtschaftlichen Konsequenzen jenseits unserer Vorstellungskraft und unserer Kenntnisse? Würden wir die faktische Billigung von Regierungsstellen erhalten? Wie steht es um die problematische Verwendung des Wortes Genozid und die Ablehnung, es wegen emotionaler, noch zu untersuchender Auswirkungen zu nutzen? "As such, these calculations and codifications obliterate what is unnamable, unimaginable, and incomprehensible about the Event—the Event ‘itself’. Like the Catastrophe, they also interdict. So ‘Genocide’ as a performative is a interdit. As a interdit, ‘Genocide’ is not itself a silence; rather, it imposes a silence by entombing the Event within the pursuit of a calculable verdict," schrieb David Kazanjian, einer der Autoren der Respiro Publikation, an Marc Nichanian in einem seiner Briefe. [1]
Könnte Respiro die Öffnung sein, der Schlüssel, der Weg zu einer Türkei, die ihre 100 Jahre eingerosteten Knöpfe resetten würde? Wie würde das mit organisierten Maschinen des Vergessens, wozu Staaten gehören, fertig werden? Wie könnten wir das Projekt vor einer Auffassung von künstlerischer Produktion schützen, die diese komplizierte Angelegenheit auf eine Dimension reduzieren würde? Und warum ständig auf die alten Wunden zurückkommen, sie immer wieder lecken, wenn man darüber hinauswachsen kann? Warum nicht Hoffnung erzeugen? Warum nicht die Ausstellung aller Stagnation zum Trotz als ein Statement inszenieren? Warum nicht Kontemporanität am Schnittpunkt von Gegenwart und entfernter Vergangenheit akzeptieren?
Sarkis beschloss, sich sein reiches Arsenal an visuellen, architektonischen und musikalischen Apparaturen zu Nutze zu machen und Werke aus dem kunsthistorischen Kanon in Betracht zu ziehen, wie etwa Das Gewitter (La Tempesta, ca. 1508) von Giorgione. Indem er diesen "Sinn für das permanent aufgeschobene Rätsel" bei den Hörnern packte, aktivierte er einmal mehr sein fortdauerndes und tiefes Engagement für das Konzept des Kriegsschatzes [vom Künstler in Deutsch so genannt - Anm.d.Ü.]. Er hatte volle Autonomie für die Auswahl der Kunstwerke und der Musik, die Tag und Nacht zu den Neon-Werken spielt und für die Dauer der Ausstellung ein- und ausatmet. Er beauftragte Jacopo Baboni-Schilingi mit dieser musikalischen Komposition, die auf des Künstlers Wiedergabe der sieben Farben des Regenbogens als einem System von Partitionen basiert. Diese spezielle Partitur wird nicht nur in Venedig gespielt, sondern auch in der Lobby des neu eröffneten Gebäudes der Hrant Dink Stiftung in Istanbul neben Altın Ikona (Goldene Ikone), einem Kunstwerk, das Sarkis der Stiftung als ein Präludium zu Respiro schenkte. Das Werk wird auf einem goldenen Viereck in der selben Größe präsentiert, wie Sarkis Glasmalerei mit dem Foto von Hrant Dink, die in Venedig zu sehen ist. Zusätzlich zu Sarkis Respiro in Venedig und Goldener Ikone in der Hrant Dink Stiftung in Istanbul haben sich fünf weitere "Boten"-Institutionen bereit erklärt, mit Respiro zu atmen, indem sie die Werke gleichzeitig ausstellen: das Château d’Angers, Angers, Frankreich; Domaine de Chaumont-sur-Loire, Chaumont-sur-Loire, Frankreich; Mamco, Musée d'art moderne et contemporain, Genf, Schweiz; Musée du Château des ducs de Wurtemberg, Montbéliard, Frankreich; und das Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam, Niederlande.
Respiro, die Publikation zur Ausstellung im türkische Pavillon in Venedig, hatte in der Zwischenzeit ein anderes Schicksal als die Installation selbst. Anfangs konnte sie nur online herausgegeben werden: die Verwendung der Formulierung "Genozid" in einem der kurzen Essays kollidierte mit der rigiden Politik des türkischen Staates in Bezug auf den historischen Völkermord. Wir erfuhren dies am 24. April 2015, dem hundertsten Jahrestag, persönlich von unserem führenden Verbindungsmann zu den Ministerien. Für unser Team war das ein absolut vernichtender Moment, ein Moment des Unbehagens, als wenn man uns in den Rücken gefallen wäre, aber auch ein Spiegel unserer Naivität. Natürlich befanden wir uns auf diplomatischem Terrain, und wir mussten uns an die von der Regierung diktierten Regeln und Gesetze halten. Was dachten wir? Der Kommissar hatte uns einen derart autonomen Operationsrahmen gegeben; das private Geld, das dahinter stand, war so großzügig und frei verwendbar, dass wir uns nicht länger darüber im Klaren gewesen sind, uns weiterhin in diesem Repräsentationsmodus zu befinden und innerhalb der diplomatischen Parameter des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten arbeiten zu müssen. Es ist ein chronischer Zustand, ein politischer Rahmen, den wir auf keine Weise ändern könnten, eine von einer langen Tradition des Außenministeriums durchdrungene Situation. Die Druckversion der Publikation wurde schnell zu einem neuen Werk am Ausstellungsort mit dem Titel Kriegsschatz Leidschatz Rainbow, Mai 2015. Es sperrte unsere Qual ein und begann, sie zu lagern. Die bei der Eröffnung Anwesenden konnten die Publikation in der Ausstellung in einer vergoldeten Kiste sehen und wurden informiert, dass sie sich dort zusammen mit allem anderen befindet. So ehrlich, wie wir konnten, legten wir unser Leiden dort hinein und wandelten es zu Gold und zu Kunst um. Zusätzlich zur Verbreitung online an ein paar Tausend Leser ist die Publikation jetzt neu gedruckt worden und beginnt, zu zirkulieren - mit genau demselben Inhalt, aber erweitert durch einige Aufnahmen der Installation und komplett befreit von all der Last der Unternehmenslogos und Flaggen.
Anmerkung:
Defne Ayas
Direktorin des Witte de With Zentrums für Zeitgenössische Kunst, Rotterdam, Niederlande.
Sarkis: Respiro
Pavillon der Türkei
56. Internationale Kunstausstellung,
la Biennale di Venezia
9. Mai - 22. November 2015
Sale d’Armi, Arsenale
Venedig
und weitere Orte
Kuratorin: Defne Ayas
Assistenzkuratorin: Özge Ersoy
Kommissar: